PSYCHIATRIEGESCHICHTE AUS DER PERSPEKTIVE DER BETROFFENEN – Das Sächsische Psychiatriemuseum in Leipzig

Foto: privat

von Thomas R. Müller, Sächsisches Psychiatriemuseum

9. Mai 2020

Acht Wochen nach der coronabedingten Schließung steht das Sächsische Psychiatriemuseum für Besucher wieder offen. Das freut Pjotr, der seit einigen Jahren die sonnabendlichen Museumsdienste macht und nun wieder Gäste empfangen kann. Pjotr holt die Besucher am Eingang der Villa in der Mainzer Straße 7 ab, in der der Psychiatrieverein Durchblick e.V. beheimatet ist, und führt sie die gläserne Treppe in die 1. Etage hinauf, wo sich das Museum befindet. Eigentlich wäre heute Museumsnacht in Leipzig und Halle. Es kämen wohl wieder mehr als 1.000 Besucher ins Haus, um sich das Museum anzuschauen und das Programm mit Mitmachaktionen wie dem „Verrückten Foto“, der Verleihung der „Goldenen Meise“, Feuershow, Bratwurst vom Grill und einem Feuer im Garten zu erleben. In die Organisation der Museumsnacht ist der gesamte Verein involviert. Denn diese Veranstaltung bietet eine gute Möglichkeit, die Psychiatrie von einer anderen Seite zu präsentieren, als sie in der Regel in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Statt Horrormeldungen über Gewalt und Verbrechen sind Kreativität und ein selbstbewusster Umgang mit Verrücktheit das Markenzeichen des Vereins. Zu dieser Aufklärungsarbeit soll auch das 2001 gegründete Museum beitragen.

Blick in die Dauerausstellung
Foto: Sächsisches Psychiatriemuseum

Rückblick

13. Mai 2001. Museumsnacht. In der Mainzer Straße 7 bildet sich eine lange Schlange vor der Eingangstür. Die zur Museumsnacht angekündigte Eröffnung des Sächsischen Psychiatriemuseums sorgt für riesiges Interesse. Dabei hätte alles auch ganz anders kommen können … 

Als wir unser Museum ein halbes Jahr zuvor für die Museumsnacht anmeldeten, grenzte das an Hochstapelei oder Größenwahn. Denn außer der Museumsidee und ersten inhaltlichen Vorstellungen gab es zu diesem Zeitpunkt wenig Vorzeigbares. Auch stellte es sich in der Folgezeit als äußerst schwierig heraus, Ausstellungsstücke für die angekündigte erste Ausstellung aufzutreiben. Die Direktoren der sächsischen Kliniken empfingen uns zwar wohlwollend, erklärten aber, dass ihre Häuser in den vergangenen Jahren saniert und historische Ausstattungsstücke und Alltagsgegenstände größtenteils entsorgt worden seien. Spürbar war aber auch eine gewisse Skepsis gegenüber dem geplanten Museum in Regie eines Psychiatriebetroffenenvereins. Welches Bild von der Psychiatrie würde dort wohl vermittelt werden? Und waren Psychiatriebetroffene überhaupt in der Lage, ein Museum zu machen?

Fast hätten sich diese Vorbehalte bestätigt, denn wenige Tage vor der Museumsnacht standen wir in leeren Räumen und fragten uns, was wohl geschehe, wenn wir uns die Narrenfreiheit nähmen und die sicher verdutzten Gäste durch eine nicht vorhandene Ausstellung führen würden. 

Schließlich fanden wir doch noch Unterstützung und liehen uns einige Objekte von dem Bremer Psychiatriemuseum. Die Museumstafeln kamen am Vortag der Eröffnung aus der Druckerei und wurden in improvisierte Rahmen gehängt. Und so konnten die ersten Besucher dann doch ganz seriös und pünktlich am Abend der Museumsnacht 2001 eingelassen werden.

Als wir wenig später die Sammlung des „Kleinen Museum“ des ehemaligen Bezirkskrankenhauses für Psychiatrie Leipzig-Dösen übernehmen konnten, hatten wir endlich einen eigenen Bestand und konnten die Dauerausstellung „IRR-SINN. Einblicke in die sächsische Psychiatriegeschichte“ ausbauen. Unsere Leitidee: Psychiatriegeschichte aus der Perspektive der Betroffenen.

Dieser Ansatz unterscheidet uns von anderen Psychiatriemuseen, denn Menschen, die als Patientinnen und Patienten die Psychiatrie erleben, haben einen anderen Blick auf das Thema Psychiatrie als die Profis. Wir möchten zeigen, wie man sich fühlt, wenn man von seinen Mitmenschen als „verrückt“ oder „geisteskrank“ angesehen wird. Wenn man ausgegrenzt und dann nicht selten gegen den Willen in eine Anstalt eingeliefert wird. Am besten lassen sich diese Schicksale anhand individueller Lebensgeschichten darstellen. Im Unterschied zu den Krankengeschichten der Psychiater widmen sich unsere Lebensgeschichten dem ganzen Menschen und reduzieren den Betroffenen nicht auf eine Krankheit oder Diagnose. 

Pjotr im Museum
Foto: privat

Zum Beispiel Daniel Paul Schreber

Der Sohn des Namensgebers der Schrebergärten Moritz Schreber gilt als der berühmteste und meistzitierte Psychiatriepatient weltweit. Schrebers Bekanntheit hängt mit Sigmund Freud zusammen, der eine Fallgeschichte verfasste, in der er die Memoiren Schrebers „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ zur Begründung seiner Paranoia-Theorie heranzog. Auch nach Freud gab es eine große Aufmerksamkeit für Schrebers Buch und immer wieder neue Interpretationen des „Falles“. 

In seinem „Wahn“ war Schreber davon überzeugt, über seine Nerven direkt mit Gott verbunden zu sein. Er fühlte sich durch dessen „verfluchte Menschenspielerei“ und durch „göttliche Wunder“ wie den „Denkzwang“, „gewunderte Vögel“ oder eine „Kopfzusammenschnürungsmaschine“ bedroht, und er sah einen Ausweg darin, sich in eine Frau zu verwandeln und mit Gott „neue Menschen aus Schreberschem Geist“ zu zeugen.

Man kann das im Buch Beschriebene analysieren, interpretieren und pathologieren. Man kann das Buch aber auch als den Hilfeschrei eines Menschen lesen, der sich dem Druck des scheinbar übermächtigen Vaters und den späteren privaten und beruflichen Herausforderungen – Schreber war auf dem Höhepunkt seiner Karriere Gerichtspräsident in Dresden – zu entziehen versuchte, indem er sich in seine eigene Welt zurückzog. Und man kann in den „Denkwürdigkeiten“ erfahren, was es für einen Mann wie Schreber bedeutete, entmündigt zu sein und mehr als acht Jahre – lange Zeit davon geschlossen – in einer Anstalt untergebracht zu werden. Schreber berichtet, wie er der Willkür der Pfleger ausgeliefert war und wie ein unmündiges Kind behandelt wurde. Dass es ihm schließlich gelang, bei Gericht die Aufhebung seiner zwangsweisen Unterbringung zu erwirken und die Entlassung aus der Anstalt zu erreichen, ist ein bemerkenswerten Vorgang, der aber nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass es vielen seinerzeit Patienten und Insassen psychiatrischer Einrichtungen nicht vergönnt war, ihre Freiheit und Autonomie wiederzuerlangen.   

Und heute?

Klar, die Psychiatrie hat sich verändert, seitdem sie sich vor gut 200 Jahren als medizinische Disziplin formierte. Die Behandlungsmethoden sind andere. Statt Drehmaschinen, Zwangsstühle oder Zwangsjacken, wie man sie im Museum besichtigen kann, prägen heute Medikamente die Therapie – und werden von vielen Betroffenen als „chemische Zwangsjacke“ empfunden. Fixiert wird noch immer, auch wenn in den letzten Jahren die ärztliche Entscheidungsmacht durch die UN-Behindertenkonvention und höchstrichterliche Urteile eingeschränkt wurde.

Die großen psychiatrischen Anstalten gibt es fast nicht mehr, sondern es besteht ein differenziertes Versorgungssystem, und auch der Blick der Ärzte und Mitarbeiter auf die Patienten wandelt sich. Im besten Fall werden sie nicht mehr als Objekt der Behandlung, sondern als Partner mit ihrem Erfahrungswissen wahrgenommen. Dazu tragen trialogische Formate bei wie die Psychoseminare, bei denen sich Betroffene, Profis und Angehörige auf Augenhöhe begegnen. Wichtige Akteure sind Organisationen wie der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener (BPE) und Vereine wie der Durchblick e.V., der in der Mainzer Straße 7 eine Kontakt- und Begegnungsstätte betreibt, wo Hilfe zur Selbsthilfe geleistet wird. Mit seinen Kunst- und Kreativprojekten will der Durchblick e.V. dazu beitragen, dass Psychiatriebetroffene in der Gesellschaft nicht länger als „arme Kranke“ wahrgenommen werden. Zu diesem selbstbewussten Umgang mit der eigenen Lebensgeschichte tragen auch das Sächsische Psychiatriemuseum und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei. Zum Beispiel Pjotr, der nach der Corona-Pause wieder eine für ihn sinnstiftende Aufgabe hat.    

Das Sächsische Psychiatriemuseum befindet sich in der Mainzer Straße 7, 04109 Leipzig und ist Mittwoch bis Sonnabend von 13 bis 18 Uhr geöffnet.

www.psychiatriemuseum.de 

Der Durchblick e.V. betreibt in der Stadtvilla Mainzer Straße 7 eine Kontakt- und Beratungsstelle, bietet verschiedene künstlerisch-kreative Angebote und ein Notwohnen.

www.durchblick-ev.de

Dieser Text wurde erstveröffentlicht im Buch „Nicht gesellschaftsfähig – Alltag mit psychischen Belastungen“.