EBBE UND FLUT

von Angela Helmers, Hospiz Verein Leipzig e.V.
Ich bin an der Nordsee aufgewachsen, im flachen Ostfriesland. In unserem Ort befand sich die Leichenhalle direkt am Friedhof. Starb jemand, wurde er dort aufgebahrt und konnte jederzeit besucht werden. In der Regel hatten die Familien einen Schlüssel zur Leichenhalle und konnten selbst entscheiden, wann, wie lange und wie oft.
Meine Oma starb ein paar Wochen vor meinem zehnten Geburtstag. Meine Eltern hatten natürlich auch einen Schlüssel bekommen und so begleitete ich meinen Vater in die kleine Leichenhalle, um meine Oma zu sehen. Die Bilder habe ich ganz klar vor meinem inneren Auge: Ich stand ganz still am Sarg und schaute meine Oma intensiv an – alles ganz genau. Hob sich nicht gerade ihre Brust? Vielleicht könnte ich sie einfach mitnehmen. Ob sie schwer wäre?
Ich berührte sie und erschrak über ihre kalte Haut.
In dem Sommer, als sie sterbend zuhause war, bin ich oft bei ihr gewesen. Alles ist sofort wieder in meinem Gedächtnis: der spezielle Geruch, das Bild „Mutter mit Kind, umflogen von Englein“ über dem großelterlichen Bett. Wie in einer Traumzeit saß ich an ihrem Bett und lauschte ihrem Atem, der manchmal lange Pausen machte. Ich betrachtete sie, nahm ihre Hand und war unsicher, wie genau ich mich verhalten sollte. Aufpassen, dass sie Atem holt. Zu trinken bekam sie „medizinisches Wasser“. Dieses stand Kistenweise im Nebenzimmer – vielleicht hatte es Zauberkräfte. Wurden die Atempausen sehr lang, ging ich in den großen Flur. Es war der Versuch, unsichtbar zu sein, und gleichzeitig war ich voller Sorge, dass sie genau in diesem Moment sterben könnte und ich hätte sie nicht beschützt.
Menschen sterben, Dinge verändern sich – diese Unfassbarkeit und gleichzeitig das Staunen darüber haben mich nie losgelassen. Die Sache mit Ebbe und Flut ist mir vertraut: Wasser geht – Wasser kommt. Wenn ich es genau wissen will, schaue ich in den Gezeitenkalender und kann mich wunderbar darauf einstellen. Nur gibt es einen solchen Kalender nicht fürs Leben. Ob das etwas verändern würde?
Im Frühjahr 2000 bin ich nach Leipzig gezogen. Ich war schwanger, kannte kaum jemanden. Täglich schrieb ich Briefe, die ich ein paar Häuser weiter zum Briefkasten brachte. Der hing an einem der wenigen unsanierten Häuser in der Kommandant-Prendel-Allee. Plötzlich aber war mein Briefkasten weg und das Haus samt Garten mit einem Bauzaun abgegrenzt. Ich ging, jetzt bereits Mama, mutig an den Zaun und fragte nach dem Bauträger. Der Bauleiter stapfte durch den Garten und kam mit seiner Mappe zurück. „Da schdehd: Hospiz Verein. Mähr weeß isch ooch nisch.“
Im Studium und in der Trauerbegleiter-Ausbildung hatte ich mich bereits intensiv mit der Thematik beschäftigt und einige Jahre zuvor andernorts auch schon mit einer Initiativgruppe einen Hospiz Verein gegründet. Da war so viel in Bewegung gewesen, so viel Mut, etwas zu verändern und gemeinsam zu gestalten.
Ich rief gleich beim Hospiz Verein an und verabredete mich. Ich begann ehrenamtlich mit einer Kindertrauergruppe, arbeitete im Vorstand mit und wechselte dann tatsächlich als hauptamtliche Koordinatorin in den ambulanten Hospizdienst. Aus der Baustelle war mittlerweile das Hospiz „Villa Auguste“ gewachsen und so starteten der stationäre und der ambulante Dienst mit seiner Arbeit unter einem Dach.

Fast 20 Jahre später empfinde ich es immer noch als ein großes Glück, im ambulanten Hospizdienst des Hospiz Verein Leipzig e.V. zu arbeiten. Wir begleiten Schwerkranke und sterbende Menschen in ihrer gewohnten Umgebung und möchten ihnen ein Sterben in Würde, möglichst schmerzfrei und respektvoll, ermöglichen. Dies bedeutet natürlich auch, die Familie, die Partner und den Freundeskreis mit in den Blick zu nehmen, ihnen Gehör zu schenken.
Das Team ist gewachsen. Wir sind mittlerweile vier Koordinatorinnen und über 80 ehrenamtliche Hospizbegleiterinnen und Hospizbegleiter. Sie sind mit ihren unzähligen Begabungen eine solch große Bereicherung und Freude für die Hospizarbeit.
Oft, wenn ich erzähle, wo ich arbeite, höre ich: „Das ist bestimmt eine schwere, traurige Arbeit. Da brauchst du bestimmt ein dickes Fell!“ Ja, traurig ist es oft. Aber ein dickes Fell habe ich mir nie wachsen lassen. Unsere Arbeit ist eine zärtliche. Ich brauche diese Durchlässigkeit, um genau wahrzunehmen, um gut an der Seite der Menschen zu sein, die sich uns anvertrauen und um Unterstützung bitten. Für diese Momente gibt es keinen Gezeitenkalender. Häufig erleben wir große Verzweiflung, Überforderung, Angst, Schmerz, Wut und auch Mut, Dankbarkeit und ein sich Einlassen auf Veränderung und Abschied.
Jede Begegnung erzählt mir etwas über Menschlichkeit, Zuneigung und Liebe. Abschiede schmerzen, können uns zerreißen, machen trostlos, sprachlos und traurig. Sowohl der Sterbende als auch die Zurückbleibenden empfinden diesen Schmerz. All das lässt sich nicht einfach beiseite legen, es lässt sich nicht einfach überwinden oder verdrängen.
Bei der Gründung des Hospiz Verein Leipzig e.V. war es ein besonderes Anliegen, Trauernde zu begleiten. Häufig geschieht dies im Gespräch zu zweit oder in Gruppen. Es gibt keinen Zeitdruck und ein Schritt folgt dem nächsten: „Niemand weiß es besser als du.“
Es gibt kein Regelwerk, keinen Plan. Wir sind da, aufmerksam und behutsam.
Der Tod oder die Trennung von einem mir bedeutenden Menschen löst meist großen Kummer aus. Manchmal steht der ganze Lebensentwurf in Frage und es ist kaum vorstellbar, dass das Leben auch in Zukunft sinnvoll sein kann. Für manche kommt der Tod sehr plötzlich und lässt die Trauernden mit vielen Fragen zurück. Andere haben in Zeiten schwerer Krankheit begleitet und sind bis an die Grenzen ihrer eigenen Kräfte gegangen, oft darüber hinaus.
Die Begleitung in einer Gruppe kann eine gute Möglichkeit sein, Menschen zu treffen, die in einer sehr ähnlichen Situation sind. Kontakte können geknüpft werden. Wir können einander ermutigen, in die neue Lebenssituation zu wachsen und zu heilen – jeder in seinem Tempo, mit seiner Geschichte und auf seine eigene Art und Weise.
Es ist wichtig, dass die Trauernden diesen Raum zum Erzählen, Erinnern, Hoffen und vielleicht auch zum Wieder-zuversichtlich-sein-können bekommen. Sie sind Grenzgänger und Suchende. Sie können ihrem Schmerz nicht entgehen. Und wir Begleiter, Familie, Freunde dürfen an ihrer Seite bleiben, wir dürfen vertrauen. Es ist gut, wenn wir da sind. Es ist gut, berührbar zu sein.

Kontakt zum Hospiz Verein Leipzig e.V.:
Ambulanter Hospizdienst
Kommandant-Prendel-Allee 97
04299 Leipzig
Telefon: 0341 – 463 719 42 / 43 oder 3320 47 23
www.hospizverein-leipzig.de
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Dieser Beitrag wurde erstveröffentlicht im Buch „#nichtgesellschaftsfähig – Tod, Verlust, Trauer und das Leben”.