ICH BIN DOCH KEIN WERWOLF – Die Recovery Geschichte

von Jan Michaelis
Mit dieser Geschichte habe ich einen Recovery-Wettbewerb gewonnen. Betreff: Erfahrungsbericht
Ich bin Jan Michaelis und war mehrmals in der Psychiatrie. Alles hat 1986 in Heilbronn begonnen. Ich war gerade volljährig geworden. Ich war frisch verliebt. Ich ging in die zwölfte Klasse. Ich erzählte meinem Lehrer, dass ich mich von ihm verfolgt fühlte, weil ich ihn in einem Leistungskurs und zwei Grundkursen hatte. Meine Schulnoten wurden immer schlechter.
Schließlich kleidete ich mich auffällig und störte fremde Klassen durch Besuche, in denen ich abstruse Ideen verkündete. Meine Mutter war verzweifelt. Sie wusste sich nicht zu helfen. Eine Lehrerin zog einen befreundeten Arzt hinzu, der die Einweisung empfahl. Der Arzt erklärte mir aber nichts. Deshalb empfand ich die Klinik, in die ich in der Dämmerung gebracht wurde, als Horrorszenario.
So etwas kannte ich nur aus dem Film „Einer flog übers Kuckucksnest“. Es war für mich ein Feindbild. Der Arzt befragte dann meine Mutter, nahm mich nicht ernst, weil ich wirr redete. Auch später wurde nicht genug gesprochen. Womöglich war das auch nicht möglich, aber es wäre einen Versuch wert gewesen und hätte dazu geführt, Verständnis zu erzeugen, auch für die Krankheit, und dann hätte ich mich nicht dafür schämen müssen.
Ich war doch kein Werwolf, der gelegentlich zu einem unberechenbaren Monster wurde. Ich gefährdete doch nicht andere. Allerdings: Ich selbst gefährdete mich, indem ich Risiken im Straßenverkehr verkannte. Ich konnte mich nicht vertrauensvoll um Hilfe suchend an vernünftige Personen wenden. Schon wie alles anfing, stand es unter einem schlechten Stern. Im Kopf hatte ich den Film „American Werwolf“, der als Lösung nur den Tod des Werwolfes anbietet. Wie konnte ich da mit Schizophrenie leben?
Musste ich nicht mein Leben beenden, um andere zu schützen?
Ich war gerade volljährig und kam in die geschlossene Station für Erwachsene. Aber reif war ich nicht. Natürlich akzeptierte ich diesen Gedanken damals nicht. Ich wollte erwachsen sein. Ein Angebot, auf die Station für Jugendliche verlegt zu werden, schlug ich deshalb selbstherrlich wie ein Cäsar aus. Nein, lieber auf der Geschlossenen und ein Erwachsener als auf einer anderen Station, wo ich nur den Status eines Kindes hatte. Aber ich blieb ein Teenager, womöglich frühreif und intellektuell überreizt. Mit Problemen in der Familie – normalen und einigen besonderen. Allerdings ist das doch zu privat, um darüber zu schreiben.
Meine Eltern waren geschieden. Jetzt war ein Sohn in der Psychiatrie und wieder flammte der Rosenkrieg auf. Darunter hatte ich sowieso gelitten. Andere Probleme und Krisen hatten sich ergeben. Womöglich hatte ich ein unerkanntes posttraumatisches Belastungssyndrom. Festgestellt wurde das nicht. Es interessierte nicht. Selbst als ich längst wieder vernünftig erzählen konnte. Denn da stand die Diagnose fest und in den Akten: Schizophrenie. An Ursachen wurde deshalb nicht geforscht. Man begnügte sich mit den Therapieerfolgen durch Psychopharmaka und Elektrokrampftherapie.
In der Klinik, in der ich bei meiner ersten und zweiten Episode landete, gab man hohe Dosen. Die Ärzte boten Elektroschocks an im Tausch für freie Wochenenden zu Hause. Ich war eingesperrt wie in einem Hochsicherheitstrakt, aus dem man nur durch mehrere Türschleusen gelangte.
In der Klinik, in der ich bei meiner ersten und zweiten Episode landete, gab man hohe Dosen. Die Ärzte boten Elektroschocks an im Tausch für freie Wochenenden zu Hause. Ich war eingesperrt wie in einem Hochsicherheitstrakt, aus dem man nur durch mehrere Türschleusen gelangte. Es gab zwar Spaziergänge auf dem Gelände und auch in den angrenzenden Weinbergen für Fluchtunwillige. Selten nutzten einzelne Patienten diese Gelegenheit doch für eine Flucht. Aber ich selbst war gar nicht fluchtwillig. Obwohl ich nach Hause wollte.
Pillen waren für mich akzeptabel. Allerdings fand ich zunächst, dass ich nicht alles einfach schlucken müsste. Man gab mir aber zu verstehen, dass ich sonst die Mittel gespritzt bekäme. Was die Medikamente bewirken sollten und an was ich wirklich litt, erklärte mir keiner. Deshalb litt ich eigentlich mehr unter der Klinikinternierung, den Nebenwirkungen und der Peinlichkeit, in diese Situation geraten zu sein. Besucher kamen oft nur einmal, weil sie von dem Szenario der Klinik verschreckt waren. Nein, der Beginn erzeugte ein Trauma für sich.
So erkannte ich lange nicht, welches Problem ich hatte. Statt meiner Krankheit zu begegnen, verschob sich durch die Behandlung, die ich erlitt, bei mir die Aufmerksamkeit auf die Klinik, die Medikamente und ich erlebte meine Angehörigen und Freunde als überfordert und hilflos, auch die Ärzte und Pfleger waren nur mit Ausnahmen eine Hilfe.
Ich wollte deshalb nichts gegen meine Krankheit tun, sondern etwas gegen die Medikamente und die Unterbringung. Das führte zu einer zweiten Einweisung 1988, als ich mich von der ersten eigentlich ganz gut erholt hatte. Ich hatte die Medikamente daraufhin abgesetzt. Ich kam wieder heraus. Jetzt erlebte ich eine vollständige Recovery Geschichte von zehn Jahren und setzte dann erneut die Medikamente ab, woraufhin ich noch einmal 1999 zu einer weiteren dritten Einweisung in eine Klinik in Nordrhein-Westfalen kam.
Ich hatte mich in der Zeit von 1989 bis 1999 erholt. Eine Lehre hatte ich mit der Note „gut“ beendet. Ein Auslandspraktikum absolvierte ich in Cardiff in Wales. Dann fand ich eine erste Anstellung nach der Lehre in Köln. Die Geburtsstadt Heilbronn verließ ich und führte mein Leben viele Kilometer entfernt von den Eltern. Ich hatte eine Führungsaufgabe in Düsseldorf übernommen und meine Frau dort kennen und lieben gelernt. Wir hatten geheiratet und uns gemeinsam selbstständig gemacht.
Zwar hatte mir ein Arzt in Köln empfohlen, bei einer Krise mich freiwillig in eine Klinikbehandlung zu begeben, aber das war doch undenkbar, weil ich die Situation dort noch immer als einen großen Schreck erlebte. Das ängstigte mich mehr, als das Märchen vom bösen Wolf es getan hatte. Außerdem lernte ich mein Misstrauen gegen die Kliniken als begründet kennen, denn inzwischen engagierte ich mich in einer Selbsthilfeorganisation und wusste, wie viele Beschwerden es über die Kliniken gab. Man war deshalb sogar auf die Idee gekommen, die zentrale Beschwerdestelle bei einem Landschaftsverband durch lokale Stellen in Form eines Ombudsmannes in der Klinik zu ersetzen, mit dem Ziel weniger Beschwerden statistisch zu erfassen. Man gab vor, so die Beschwerdegründe schneller abschaffen zu können. Allerdings hatte ich das Vorgehen des Ombudsmannes noch außerhalb der Klinik als fragwürdig und wenig hilfreich kennengelernt.
Mein neuer Arzt in Düsseldorf meinte deshalb, es wäre genau richtig gewesen, dass ich in die Klinik gebracht worden war, weil ich es freiwillig nicht getan hätte und ohne Behandlung geblieben wäre. Durch meinen dritten Klinikaufenthalt wurde mir klar, dass ich ein Problem hatte, und alles andere erst die Folge davon war. Die Klinikunterbringung war die Wirkung meiner Verrücktheit. Und nicht die Ursache!
Ich empfand oft meine Krankheitsanzeichen als nett zu erzählende Geschichten. Dann erst begriff ich, dass ich ja gar nichts begriffen hatte. Das war wie ein Schlag ins Gesicht, der einen ernüchtert, nachdem man nicht mehr ganz bei Sinnen war. Für mich schien es normal zu sein, was ich da erlebte. Wenn ich erzählte, dass ich aus einem wahllos herausgegriffenen Buch auf einer willkürlich aufgeschlagenen Seite eine beliebige Textpassage wie einen Orakelspruch vorlas und dies doch auch Augustinus in seinen Bekenntnissen beschrieben hatte, so dachte ich tatsächlich, dies wäre in Ordnung. Doch dann verstand ich: Es war ein klassisches Symptom für eine Wahnvorstellung.
Natürlich gibt es viele Anregungen für meine verrückten Aktionen, und vieles lässt sich an die Realität anbinden, was zunächst den Eindruck von wirren Erzählungen machte. Da mussten sogar die Ärzte staunen, wenn meine Frau die Zusammenhänge erklären konnte und die scheinbaren Wahninhalte als Erlebnisse aufschlüsselte. Aber dennoch blieb ein Problem: Ich war nicht mehr ich selbst. Ich konnte mich nicht mehr kontrollieren. Ich hatte Impulse, denen ich nachgab. Zwar hörte ich keine Stimmen, die mir befahlen, aber ich war wie ein Schauspieler, der ohne Drehbuch agierte und immer auf neue Rollen rutschte. Damit war ich schizophren und wahnhaft überzeugt, etwas zu sein, was ich nicht war, und ich inszenierte mich als Elvis oder dergleichen. Hätte ich vorgegeben, Napoleon oder Jesus zu sein, es wäre noch klarer geworden, wie krank ich war.
Zum Glück half man mir. Die Ärzte waren zwar mit ihrem Latein am Ende, aber sie gaben nicht auf. Ich wurde weiter behandelt. Meine Angehörigen hielten zu mir, sowohl meine Frau wie meine Eltern. Einzelne Freunde besuchten mich selten wie die blaue Mauritius. Aber genau diese Besuche brachten mich nachher weiter.

Meine Frau aber besuchte mich täglich, kontrollierte die Klinik und hatte viel zu bemängeln, weil die Pflege dort im Argen lag. Die Missstände waren so gravierend, dass Freunde aus der Selbsthilfe, die schon viele Kliniken besucht hatten, sich entsetzt zeigten. Doch trotzdem konnte ich irgendwann nach Hause auf eigene Veranlassung gegen ärztlichen Rat und nur weil meine Frau es mitmachte.
Erstmal war ich die lästige Unterbringung los.
Die Medikamente aber hatten so schlimme Wirkungen, dass ich auch davon einen Teil absetzen wollte, doch bekam ich nur Probleme beim Absetzen, denn ich war abhängig geworden und hatte Entzugserscheinungen, die meine Frau in große Ängste stürzten. Sie war verzweifelt und hilflos. Nur durch einen erfahrenen Psychiater, der uns die Wahrheit sagte und einen Ausschleichplan erstellte, bekam ich endlich die Dosis, die ich brauchte und die mir half.
Ich versuchte, diese Schwierigkeiten zu bewältigen. Auf meine Weise fand ich Wege, mir selbst zu helfen. Aber oft brauchte ich einen Tritt. Erst mal hatte ich ja mein Hauptproblem lange Jahre ausgeblendet. Ich schämte mich für die Nebenwirkungen der Medikamente. Ich wollte raus aus der Klinik. Das lief so: Ich ließ mich nach mehrmonatigen Klinikaufenthalten auf eigene Verantwortung entlassen. Beim ersten Mal gab es ein Arztgespräch, indem mir eine weniger harte Diagnose mit auf den Weg gegeben wurde.
Natürlich nahm ich die gut gemeinten Ratschläge nicht wirklich ernst, ich nahm zwar meine Medikamente, aber ich drängte darauf, sie zu reduzieren. Ich konnte zunächst wieder auf die Schule gehen und außer Konkurrenz an den Klassenarbeiten teilnehmen, da ich die Versetzung in die Oberstufe schon in der Tasche hatte. Tatsächlich kam ich so zurück auf mein altes Leistungsniveau. Doch vor dem Abitur wollte ich die „Drogen“, wie ich die Medikamente empfand, wieder absetzen und prompt musste ich wieder in der Klinik soviel Medikamente in meinen Körper einwerfen, wie ich im ganzen Schuljahr nicht geschluckt hätte. Wieder war ich herausgeworfen, wieder besuchten mich einzelne Mitschüler und wieder schämte ich mich.
Beim zweiten Mal lief es dann schon anders: Noch einmal kam ich mit Aussicht auf eine Lehrstelle frei. Nur um mich dort als stark eingeschränkt durch die Medikamente zu erleben und deshalb einen halbherzigen Selbstmordversuch zu unternehmen, eigentlich nur ein Aufschrei: So wollte ich nicht weiterleben.
Tatsächlich fand man dann in der Allgemeinklinik Medikamente, mit denen ich leben konnte und wollte. Danach half mir mein Zuhause, mich wohl zu fühlen, ich schlief viel, aber ich tat auch etwas, um meine Kräfte zurückzubekommen. Ich traf Kameraden, mit denen ich Tischtennis und Schach spielte. Mit anderen spielte ich Basketball. Ich suchte mir Aushilfsjobs, um Geld zu verdienen. Fand schließlich durch die Hilfe meiner Mutter eine Lehrstelle, nachdem ich viele Bewerbungen unternommen und bereits zur Probe gearbeitet hatte. Mir hat besonders geholfen, dass ich versucht habe, ins normale Leben zurückzufinden. Meinen Interessen nachzugehen.
Ich habe mich bei den ersten zwei Klinikaufenthalten nur an niedergelassene Ärzte um Hilfe gewandt. Dort musste ich meine Medikamente bekommen. Sie haben mir nur so geholfen und die Gespräche, die sie mit mir geführt haben, waren keine Hilfe, sondern dienten nur dazu, die Therapie zu sichern, die Compliance zu gewährleisten.
Wir hatten vor meiner Noteinweisung ebenfalls eine vergebliche Ärzteodyssee hinter uns und meine Mutter versuchte, mit mir auf dem Fahrrad zu einem Psychiater zu gelangen, bis uns dann jemand Wildfremdes anbot, uns im Auto hinzufahren, weil er Mitleid mit uns hatte.
Ich konnte mir in Heilbronn den Arzt nicht aussuchen, es gab nur einen, der überhaupt noch neue Patienten annahm, der saß in Neckarsulm, was bedeutete, dass ich auf dem Fahrrad in die nächste Kleinstadt fahren musste. Denn in der Regel stand meiner Familie kein Auto zur Verfügung. Diese Situation ist schon wahnwitzig. Sie zeigt auch, wie schlecht die Versorgung in meiner Region war. Wir hatten vor meiner Noteinweisung ebenfalls eine vergebliche Ärzteodyssee hinter uns und meine Mutter versuchte, mit mir auf dem Fahrrad zu einem Psychiater zu gelangen, bis uns dann jemand Wildfremdes anbot, uns im Auto hinzufahren, weil er Mitleid mit uns hatte.
Wir wurden von den Ärzten abgewiesen und vertröstet. Ich schreibe dies mit einiger Bitterkeit, denn ich bin mir sicher, dass meine traumatischen Erlebnisse in der Klinik überflüssig waren und das Problem unnötig überlagerten und verschoben haben.
Jahre später in Düsseldorf erlebte ich vier verschiedene niedergelassene Psychiater, die sehr unterschiedlich in ihrem Stil und ihrem Therapiegeschick waren. Mein Absetzversuch wurde von Psychiatern begleitet, aber auch hier unterblieb ein Gespräch, dass mich gewarnt hätte – vor dem drohenden Scheitern.
In Düsseldorf fand ich eine Selbsthilfegruppe und Anschluss an den Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener (BPE) und dessen Landesorganisation. Ein von einer Klinik in Düsseldorf angebotenes Psychose-Seminar fand ich uninteressant und ich blieb nach einigen Besuchen weg. Ich habe nur eine Laienhelferin aus der Selbsthilfeszene um Hilfe gebeten. Sie hat mir wirklich gute Impulse gegeben. So halfen mir Kreuzworträtsel, die ich auf ihr Anraten machte, meine Sprachkompetenz wieder zu erlangen. Gemeinsame Mahlzeiten halfen mir, meine Initiativkraft zurückzugewinnen.
Eine betroffenengeleitete Psychopharmaka-Beratung des BPE empfahl mir, meine Medikamente nicht abzusetzen. Der Psychiatrie-Erfahrene, der mich beriet, hatte mich in der Klinik besucht und im Akutzustand erlebt und das war für ihn erschütternd. Diesen Zustand galt es zu vermeiden.
Das war er, der Moment, der mich aus einem hilflosen Werwolf in einen Menschen verwandelte. Da war jemand, der sagte, er kennt mich, wie ich normal bin und so sollte ich bleiben, nicht der Tod im Kugelhagel der Polizei, sondern das Leben als Mensch konnte ich wählen. Ich entschied mich. Ich wollte ein Mensch sein. Ich war doch kein Werwolf!
Und viele Hilfsangebote brauchte ich gar nicht. Dienste fragte ich gar nicht um Hilfe. Als das Gesundheitsbüro mir von der Selbsthilfegruppe abriet, fragte ich beim BPE nach, die rieten zu. Daraufhin ging ich zu einem Treffen, wurde Vereinsmitglied und engagierte mich für die Selbsthilfe und auch für eine menschliche Psychiatrie.
Seit Jahren bin ich auch Kassenprüfer des Landesverbandes Psychiatrie-Erfahrener in NRW und leite auf Landes- und Bundesebene die Mitgliederversammlungen. Da kommen 70 bis 120 Mitglieder zusammen. Ich schreibe und redigiere seit mehreren Jahren die Zeitschrift des Landesverbandes.
Diese Tätigkeit half mir sehr, weil ich mich hier mit meinen Talenten einbringen kann.
Aber die Unterstützung, die für mich am hilfreichsten war, kam von meinen Angehörigen. Schon meine Mutter hatte bei den ersten zwei Schüben mich nie fallen lassen und auch mein Vater hielt zu mir und auch andere Familienmitglieder halfen mir und das war toll.
Meine Freundinnen hatten zwar wegen der Schübe jeweils mit mir Schluss gemacht. Es war für sie selbst sehr schwer zu ertragen gewesen, den geliebten Menschen so leiden zu sehen, und ich war auch nicht mehr in der Lage, meine Gefühle wahrzunehmen und auszudrücken. Ich war betäubt und führte teilweise ein Leben wie ein Zombie. Dass meine Ehefrau zu mir hielt, schien einen Fluch zu durchbrechen. Nach den zwei gescheiterten Beziehungen war es eine Erlösung, eine treue Frau an meiner Seite zu haben, die auch in schlechten Zeiten nicht aufgab und an mir fest hielt.
Das ist ein seltenes, unschätzbares Glück. Ich wünsche es allen.
So hat sie auf den Genesungsprozess am meisten eingewirkt. Sie hat mir in der Klinik geholfen, nicht ausgeliefert zu sein. Und dieser Beistand war bitter nötig, denn der Ombudsmann bügelte die Beschwerden oft einfach ab. Aber meine Frau sorgte dafür, dass doch bestimmte Probleme abgestellt wurden. Ich sah an anderen Patienten, deren Angehörige nicht nach dem Rechten sahen, wie schlecht es denen ging.
Es gab Faktoren, die den Genesungsweg erschwert haben. Überflüssige Medikamente, von denen ich abhängig wurde und deren Nebenwirkungen den Krankheitssymptomen glichen.
Es gab Faktoren, die den Genesungsweg erschwert haben. Überflüssige Medikamente, von denen ich abhängig wurde und deren Nebenwirkungen den Krankheitssymptomen glichen. Dabei war ich nicht ein Einzelfall, sondern eine niedergelassene Psychiaterin erklärte mir, dass die Klinik diese Medikamente oft verschriebe und das Problem des Ausschleichens den niedergelassenen Kollegen auflaste. Andere Medikamente waren und blieben nötig und ich nehme sie bis heute als Rezidivprophylaxe. Dafür bin ich dankbar, ich habe aber auch davon Nebenwirkungen und kann nur hoffen, dass ich weiterhin nur Nebenwirkungen bekomme, über die ich hinwegsehen kann. Hauptsache ich erleide nicht wieder einen Schub.
Ich gehe regelmäßig zum Arzt und zwar einmal im Quartal. Meine Ärztin ist überrascht, wie gut ich mich erholt habe. Sie zieht sogar die harte Diagnose in Frage, weil ich mich als Schizophrener nicht so gut erholt haben könnte. Für mich spielt die Diagnose keine Rolle. Wie das genannt wird, ist mir egal, ich will dieses Problem nicht noch einmal mein Leben für Monate bestimmen lassen.
Ich fand es aber etwas ernüchternd, dass mir eine Ärztin sagte, so ein Schub könne auch unter Medikamenten erfolgen. Da staunte ich dann doch über die Offenheit. Nun, es gibt auch Psychiater die meinen, die Patienten werden nicht wegen der Behandlung gesund, sondern trotz der Behandlung.
Wie dem auch sei, überflüssige Medikamente will ich nicht nehmen und schon gar nicht, wenn sie das verursachen, was ich als Symptomatik bezeichne. Und es war da ein großes Glück, mehrere Psychiater zu konsultieren, weil nämlich ein junger Psychiater keine Hilfe wusste, er bot an, mich sofort einweisen zu lassen. Das kam nicht in Frage.
Dann half ein alter Psychiater, der sofort erkannte, was das Problem war, nämlich dass man im Gegensatz zu einem Kollegen, der riet, das Medikament einfach sofort wegzulassen, es über Monate ausschleichen müsse. Er schrieb mir den Plan dazu auf. Und es klappte. Ich musste weder in die Klinik noch brauchte ich dieses Medikament. Aber nicht jeder Arzt wusste, wie das gehen sollte.
Ich schreibe dieses Beispiel, um eine differenzierte, verantwortungsvolle Umgangsweise damit zu ermöglichen. Es geht nicht darum, alles für jeden zu verteufeln und selbst hartgesottene Psychopharmakagegner rieten mir zu, meine Medikamente zu nehmen. Allerdings sind die Entlassungsdosen oft viel zu hoch. Von Grundsätzlichem „gar nicht“ rate ich deshalb ab. Für mich ist auch wichtig, nicht mehr Monate lang mit Medikamenten vollgepumpt zu werden, wenn ich mit einer geringen Tagesdosis meine Schübe vermeiden kann, vermeide ich auch diese Situation in der Klinik.
Nebenbei gab es Ereignisse und besondere Momente, die meine Genesung positiv beeinflusst haben. So nahm mich meine Frau zu einem Termin für die Presse mit. Sie musste in einem Freizeitpark fotografieren. Ich sollte alle Interviews aufschreiben. Das war eigentlich vor meiner Klinikunterbringung mein Job gewesen. Jetzt hatte ich davor großen Respekt und traute es mir nicht mehr zu. Aber dann wurde ich von Stunde zu Stunde selbstsicherer und hatte nachher auf meinem Block eine gute brauchbare Ausbeute und konnte erstmals wieder einen Text liefern. Das war ein tolles Gefühl.
Ein anderes Mal fuhren wir für einen Tag ans Meer nach Holland. Auf dem Hinweg war ich noch ängstlich und kleinlaut. Doch bereits in Holland wurde ich belebt und fröhlich. Schließlich sollte ich für die Rückreise die Reiseroute planen und fand auf der Länderkarte gleich mehrere Möglichkeiten zurückzufahren und einen langen Stau zu umgehen. Wir nahmen die Route über Belgien und ich führte uns sicher nach Düsseldorf zurück. Auch das war für mich eine tolle Erfahrung. Ich konnte mich orientieren und Verantwortung übernehmen. Ich traf Entscheidungen und wurde durch den Erfolg belohnt.
Nachdem ich lange krank und arbeitsunfähig war und auch niemand etwas daran zu ändern vermochte, drängte mich meine Frau, doch wieder zu arbeiten und Geld zu verdienen. Ich suchte dazu eine Möglichkeit. Und tatsächlich fand ich eine Halbtagsstelle. Dazu musste ich eine Schulung machen und die war ganztags und in einer abgelegenen Großstadt.
Für mich war das die beste Rehabilitation. Ich konnte wochenweise lernen und machte die Prüfung mit einem sehr guten Ergebnis. Ich konnte dann halbtags arbeiten, was bedeutete, dass ich ganze Tage arbeitete und dann wieder tageweise frei hatte. Das war sehr gut für mich. Diese Form der Arbeitsbelastung war genau richtig für mich und ich verdiente mein eigenes Geld. Ich brauchte keine Rente und keinen Zuschuss. Es war ein großer Glücksfall.
Als es Probleme am Arbeitsplatz gab, kündigte ich spontan. Meine Frau machte mir keine Vorhaltungen, weil sie nicht wollte, dass ich wegen einer falschen, durchgehaltenen Belastung wieder krank würde. Ich suchte mir eine andere Teilzeitstelle und dazu noch eine Arbeit für das Wochenende und für den Nachmittag als Selbstständiger. Das ging gut und ließ sich gut kombinieren und endlich konnte ich nicht nur Geld verdienen, sondern mit meiner Arbeit auch meine anderen Ziele und auch Selbstverwirklichung erreichen. Auch dieser Umgang mit Belastung war ein besonderer Moment und die Kündigung war ein Ereignis, das mir zeigte: Ich kann mich positiv abgrenzen, ich brauche nicht verrückt werden, um eine Situation zu verlassen, die mich kränkt.
Heute habe ich einige Bücher veröffentlicht und mehrere Ordner voller Zeitungsartikel. Ich habe den Beruf des Autors und Publizisten, den ich als Schüler haben wollte. Ich lese vor Menschenansammlungen von 20 bis 300 Leuten ohne Ängste mit einem belebenden Lampenfieber.
Das alles erreicht zu haben, erfüllt mich mit Dankbarkeit.
Für mich bedeutet Genesung, wieder Lebensfreude zu spüren. Ich war in meinen Schüben eher manisch und durch die Behandlung eher depressiv. Nach einer schweren Sedierung sich wieder über den Frühling zu freuen, sich daran zu freuen, wenn die Katzen sich anschmiegen, ein Buch mit Hingabe lesen zu können, eigene Interessen zu spüren und ihnen nachzugehen. Sich mit Freunden und Kollegen zu treffen. Seinen Alltag selbst zu bestimmen. Eine Partnerschaft zu führen und einer Arbeit nachzugehen, die einen ernährt und einer, die einen erfüllt, über Witze lachen zu können. Mit Menschen zu musizieren. Mit Freunden und Bekannten zusammenzusitzen und zu sprechen.
Das alles kann ein Werwolf nicht. Das alles kann ich. Ich bleibe ein Mensch. Und selbst in meinen Schüben konnte ich vieles davon, blieb menschlich und wurde kein Werwolf. Dafür bin ich dankbar.

SEELENFRESSER „red-ho+_ridinghood“
Heute engagiere ich mich nicht nur in der Selbsthilfeszene. Ich bin auch als Autor organisiert und in einem Verein aktiv tätig, ich treffe mich mit Autorenkollegen, die haben andere Probleme, brauchen andere Jobs, um davon zu leben, haben andere Schicksalsschläge zu verkraften. Das alles zu sehen, tröstet mich und meine Meinung über mich hat sich im Laufe des Genesungsprozesses verändert. Heute bin ich weniger von Scham geprägt. Ich fühle mich weniger minderwertig. Ich spüre meine Stärke und schreibe über meine Erfahrung, aber ich lasse mich auch nicht komplett darauf einschränken. Mein Selbstwertgefühl erwächst auch daraus, dass ich mich in anderen Rollen erlebe als die des Patienten.
So begegnete ich meinem behandelnden Arzt auf der geschlossenen Station Monate später auf einer Tagung des Verbandes der Angehörigen. Er war am Stand der Klinik Ansprechpartner, ich war am Stand der Psychiatrie-Erfahrenen Ansprechpartner. Er war überrascht. Ich denke, er musste seine Meinung über mich verändern. Auch andere mussten ihre Meinung verändern.
Aber manch einer hatte keine Gelegenheit, seine Meinung überhaupt zu überdenken. Denn einige Freunde wollten einfach das Bild, das sie von mir hatten, gar nicht durch einen Klinikeindruck verwischen lassen. Sie wollten mich so in Erinnerung behalten, wie ich vor dem Schub war, und waren froh, mich später wieder genauso vorzufinden.
Es gab eine Freundin, die einen Besuch ablehnte, obwohl ich ihn mir wünschte, und auch später Distanz wahrte, dann aber doch nach einer persönlichen Begegnung zu meiner Frau sagen musste, dem Jan merkt man gar nichts an, der ist ja wieder wie früher. Wieder wie früher sein, wie vor den Schüben oder wie in der Zwischenzeit, wo ich mich schon einmal erholt hatte und auch für keinen erkennbar an Schizophrenie litt. Wieder wie vor dem dritten Schub sein, als ich in einem Kabarettkurs auftrat und im Düsseldorfer Komödchen vor ausverkauftem Haus mit den Kursteilnehmern Sketche und Songs aufführte. Wieder ins Ausland fahren und in Polen und Russland Reportagen schreiben. Dass alles geht für mich, geht wieder und geht immer noch.
Ich kann meinen Hobbys nachgehen und Projekte zu Ende führen. Gleichzeitig mehrere Eisen im Feuer haben und doch auch rechtzeitig das Hufeisen herausnehmen und mein Glück schmieden. Ja sogar das Pferd beschlagen und darauf reiten. Das Leben reiten. Ein Arzt sagte einmal zu mir: „Man muss das Leben reiten.“ Heute kann ich das. Wer hätte das gedacht?
Ärzte sind für mich auch keine Feinde. Manchmal haben sie mir ganz gute Sachen gesagt, manchmal haben sie mich geschont und deshalb belogen. Auch die Ärzte mussten ihre Meinung von mir verändern. Aber ich auch. Heute bin ich krankheitseinsichtig und compliant. Heute reduziert meine Psychiaterin von sich aus die Medikamente, ich dränge da überhaupt nicht mehr.
Heute bin ich als Autor respektiert und ich erlebe auch Konkurrenz, mit der ich aber gut umgehen kann. Ich suche mir die Leute aus, die offen und ohne Missgunst sind. Ich bin jetzt seit mehreren Jahren der Geschäftsführer eines Autorenverbandes. Außerdem gehe ich mit Hingabe meinem Hobby nach und spiele Jazzposaune. Die wöchentlichen Proben und der jährliche Auftritt bei einem Festival erfüllen mich mit Freude.
Meinen Weg vom Beginn der Erkrankung bis heute würde ich als Versuch und Irrtum beschreiben. Ich war wie ein Boxer, der durch mehrere Runden gehen musste. In Runde eins und zwei wurde ich auf die Matte geschickt. Als ich ein drittes Mal zu Boden ging, drohte mein Trainer, das Handtuch zu werfen. Aber dann entschied er sich, mich weiter kämpfen zu lassen. Zwar habe ich den Kampf noch nicht gewonnen. Aber ich stehe. Und ich blieb ein Boxer. Ich werde weitere Kämpfe fighten. Man kann nicht immer gewinnen. Man kann nicht immer Weltmeister bleiben. Aber man bleibt ein Boxer. Und man bleibt ein Mensch.
Wenn ich mal von diesem Gleichnis absehe, will ich damit sagen, dass ich durch meine Krankheit schwere Rückschläge zu überwinden hatte. Dies ist mir aber gelungen. Außerdem gibt es Schlimmeres. Mein Bruder lebt schon nicht mehr, er hatte keine Schizophrenie und keinen Suizidversuch unternommen, aber er ist jung an Krebs gestorben. Bei allem Leid denke ich doch dankbar daran, welches Glück es ist zu leben. Und Lebensfreude zu spüren.
Dabei stelle ich mir die Zukunft durchaus gemischt vor. Ich rechne mit weiteren Schicksalsschlägen. Und auch mit Glücksfällen. Ich rechne damit, dass Arbeit vor mir liegt und ich weiterhin viel zu tun haben werde, weil ich bestimmt nicht genug in die Rentenkasse einzahlen kann, um davon mich früh zurücklehnen zu können. Und auch weil ich hoffentlich aus mir heraus, genug Projekte realisieren werde. Ein Schriftstellerkollege hat mal scherzhaft von sich gesagt: „Das ist mein Projekt 1036.“ Er ist zehn Jahre älter als ich und mir gefiel der Witz, den er damit gemacht hat. Ich finde es aber auch sehr angenehm, dass es ein warmherziger Humor ist. Er zeigt etwas zu tiefst Menschliches, dass ich auch zu eigen habe: Es geht immer weiter mit dem nächsten Projekt.
Ich jedenfalls habe noch einen weiten Weg vor mir. In meinem Beruf will ich vorankommen, weitere Bücher schreiben und veröffentlichen, in zusätzlichen Städten vor Publikum lesen und meine Bücher verkaufen.
Ich will in meiner Partnerschaft noch meine Familienplanung abschließen und ein Kind groß ziehen. Dazu befinde ich mich mitten im Eignungsverfahren. Ich war überrascht, als man uns im Kinderwunschzentrum den Vorschlag machte, doch ein Pflegekind in Betracht zu ziehen. Ich dachte, mit meiner Krankheit ginge das nicht. Aber die Ärztin dort meinte, das sei doch kein Hinderungsgrund, wo ich jetzt zehn Jahre keinen Schub gehabt hätte.
Meine Frau war auch überrascht, sie hatte auch gedacht, meine Krankheit sei ein Ausschlusskriterium. Aber als sie direkt beim ersten Gespräch dem Jugendamtsleiter davon berichtete, gab auch er Entwarnung und meinte, das sei kein Ablehnungsgrund. Ich war völlig überrascht. Ich bin also ein Mensch.
Und jetzt geht das Eignungsverfahren planmäßig weiter und ich lerne viel über mich dadurch kennen, was ich nicht wahrhaben wollte und was auch bisher keinen Psychiater interessierte. Womöglich ist das auch gut so und ich staune einfach nur.
Ich wollte einmal ein Buch schreiben, über meine Erfahrung mit der Psychiatrie. Nun schreibe ich diese Recovery Geschichte und das ist auf eine Art etwas ganz anderes. Ich staune. Mir gefällt das sehr gut. Bei der Landeszeitschrift haben wir schon einmal die Anregung bekommen, doch Positivbeispiele zu bringen. Das schreiben aber wenige. Viele stecken noch zu sehr in den leidvollen Erfahrungen fest.
Für mich wird es Teil meiner Zukunft sein, diesen tollen Ansatz der Recovery Geschichte weiter voranzutreiben. Ich will mich aber nicht darauf einschränken lassen. Ich bin ein vollständiger Mensch und habe viele Anteile. Ich erlebe mich in vielen Rollen und Milieus und ich verändere mich auch immer weiter. Gleichzeitig bleibe ich wiedererkennbar, bleibe ich mir treu. Auch das ist etwas sehr Positives. Ich bin nicht nur kein Werwolf, sondern selbst der Vollmond spielt keine Rolle. Wenn überhaupt, nimmt die Krankheit Schizophrenie zwar in meinem Leben ihren Platz ein und bestimmt davon Teile, aber sie definiert mich nicht. Das heißt nicht, dass ich sie verdrängen will oder dass ich sie abspalten will. Ich kenne mich, ich kenne meine Krankheit, aber ich kenne auch meine Gesundheit und meinen Willen zum Recovery und ich rechne auf meine Angehörigen, besonders auf meine Mutter und auf meine Frau. So eine Recovery Geschichte von mir ist auch unsere Geschichte. Deshalb ermutigte mich auch meine Frau: „Schreib das! Schreib unsere Geschichte!“ Ich begriff nicht gleich. Aber dann wurde mir klar: Ich bin ein Mensch, aber nicht alleingelassen. Das ist eine tröstliche Geschichte.
Dieser Text wurde erstveröffentlicht im Buch „Nicht gesellschaftsfähig – Alltag mit psychischen Belastungen“.