NICHT GESELLSCHAFTSFÄHIG.

Foto: privat

von Penelope Theile

Seit ich denken kann, sträubte sich in mir der Widerwille gegen Anpassung, gegen Erwartungen an mich, gegen Bevormundung und vor allem gegen Ungerechtigkeiten. Immer war ich dagegen, immer war man gegen mich. Das mag sich wie die Äußerung eines naiven, trotzigen Kindes oder einer paranoiden Erwachsenen lesen, aber das ist meine Geschichte. Oft habe ich das Gefühl, mein Leben andersherum zu leben – sozusagen von der Wirkung zur Ursache. 

Die Auswirkungen dieser lange als ominös empfundenen Ursachen waren und sind zum Teil noch immer sehr erdrückend. Da ist dieses Gefühl, einen Platz in dieser Welt einzunehmen, der mir nicht zusteht. Das Gefühl, allem ausgeliefert zu sein – auch mir selbst und der Dunkelheit und Erschöpfung, die mich oft so schonungslos und ohne Vorankündigung überkommt und in der man es sich zuweilen so wohlig gemütlich machen kann. Es ist schwer zu beschreiben, wie leicht es sein kann, in einer Masse aus gutgelaunten Menschen plötzlich unsichtbar zu werden, wie es möglich ist, die Welt von jetzt auf gleich gedämpft und freudlos wahrzunehmen. Und dann ist da noch die Angst, immer wieder diese beklemmende Furcht, die das Leben ausbremst, während alle um mich herum einfach Gas geben. Jede gesellschaftliche Situation wurde mir im Laufe der Zeit zur Belastung, permanent verfiel ich in Grübeleien und vernichtende Selbstkritik, ich schlief schlecht, wähnte mich überall umgeben von Feind:innen, von potentieller Gefahr und Ungerechtigkeit. Ich stand immer unter Strom, meine Aggressionen richteten sich nach innen und ich konnte meine Bedürfnisse weder erkennen noch formulieren oder gar deren Erfüllung einfordern oder selbst bewerkstelligen. Ich war gefangen in mir selbst.

Das Ende einer toxischen Beziehung, durch das sich all meine Ängste und Befürchtungen zu bewahrheiten schienen, war der Beginn der Auseinandersetzung mit den Ursachen meiner Empfindungen und sozialen Schwierigkeiten. Viele Dinge, die mir widerfahren sind, die mich geprägt haben und die mich heute auf seltsame Weise durch ihre Überwindung stärker machen, hatten früher keinen Namen und blieben für mich verstellt, sie blockierten mein Leben, machten mich zum Fremdkörper, zur Zielscheibe, zum Opfer. 

Langsam setzte ich das Puzzle meines Lebens zusammen und was ich fand, schockierte mich sehr. Das, worüber alle schwiegen, wofür ich keine Worte hatte, wozu ich keine Bilder erinnern konnte, was ich selbst irgendwann in Zweifel zog, lag auf einmal vor mir. Ich hatte Glück im Unglück, wenn man so will. Meine Missbrauchsgeschichte war zumindest einseitig dokumentiert, da zwei der Übergriffe in einer Institution stattfanden, die zur Führung von Behandlungsakten verpflichtet war. Was ich in dieser Akte über mich erfuhr, über die Menschen in meinem Umfeld und über Menschen, die mir gegenüber eine Sorge- und Schutzpflicht hatten, zog mir den Boden unter den Füßen weg. Wie selbstverständlich dort über mich entschieden wurde, wer sich dort offenbarte, sich gegenseitig schützte und aus der Affäre zog und wie mir auferlegt wurde, selbst dafür Sorge zu tragen, nie wieder zum Opfer zu werden (ich war zehn), war unfassbar. Doch nun hatte ich es schwarz auf weiß, nun konnte ich es beweisen, nun glaubte man mir endlich. Leider kann heute, nach so langer Zeit, nach der teils wiederkehrenden Erinnerung, nach der Selbstkonfrontation mit dem Tatort und einigen der Akteure keine juristische Aufarbeitung mehr folgen – dieser und vorherige Übergriffe gelten als verjährt. 

Meine Familie – die kleinste Form von Gesellschaft, die ein Kind zunächst kennenlernt – hatte versagt. Meine Geschichte ist geprägt von gesellschaftlich verpönten, aber dennoch stillschweigend hingenommenen oder schlichtweg ignorierten Übergriffen in meine physische und psychische Integrität, in meine Würde und in meine Entfaltung als Person. Ich bin früh Opfer geworden, so früh, dass meine kleine Seele den darauffolgenden Übergriffen schon im Überlebensmodus begegnete. Und dieser Überlebensmodus schützte mich stets unbewusst nach innen, aber nach außen schien er einer Einladung gleichzukommen. Meine kindlichen Bedürfnisse wurden nicht gehört, ich wurde nicht beschützt, ich wurde mehrmals wieder Opfer und mehr noch, man schien mir mindestens eine Mitschuld daran zu geben. Ich wurde gemobbt, gemieden, vernachlässigt, man manipulierte mich, man belog mich zu meiner Herkunft und anderen identitätsstiftenden Einflüssen u.v.m. Die Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung der mir zustoßenden oder versagten Dinge und dem romantisierten und idealisierten (Selbst)Bild der Familie, aus der ich komme, haben mich zutiefst verunsichert. Schon früh erlebte ich mich als nicht ausreichend, als störend, als Person mit zwei Persönlichkeiten – der Guten und der Bösen. Für die Böse fand man eine Vielzahl an Namen und Zuschreibungen, man schimpfte sie, bedachte sie mit normierenden Appellen und konfrontierte sie mit einem Moralkodex, dem sie nicht genügen konnte. Sie wurde zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Mehr noch, ich internalisierte das Bild, welches man von mir hatte und litt darunter. So gern wollte ich dazugehören, wollte gesehen werden und Zuwendung erfahren. Stattdessen leide ich nun seit über 30 Jahren an Depression und dem posttraumatischen Belastungssyndrom (PTBS). 

Alles, was anderen selbstverständlich erscheint, ist mir ein innerer K(r)ampf. Ich habe Ängste, die mich in bestimmten Situationen verstummen lassen, die mich zum Rückzug zwingen, die mich im Kaschieren und Aushalten viel Energie kosten, die das vertrauensvolle Eingehen gesunder Beziehungen erschweren und sogar eine gesunde Selbstwahrnehmung und Selbstfürsorge manchmal unmöglich machen. Ich bin sehr empathisch, leide und liebe im Übermaß, stehe gern für mehr Gerechtigkeit ein, auch wenn mir eine persönliche Kontaktaufnahme zu Gleichgesinnten oft nicht möglich ist (manchmal kann ich nicht mal mit meinen Lieben telefonieren). Nun spüre ich auch zunehmend den Druck, aus meinen Lebenserfahrungen (die, laut einer lieben Freundin, auch für drei Leben reichen würden) etwas Kreatives und Positives zu schöpfen und manchmal verzweifle ich daran, vermeintlich auf der Stelle zu treten.

Nach all diesen Jahren bin ich all dem aber nicht mehr ausgeliefert, ich kämpfe mich nicht zurück in mein Leben, sondern ich beginne es gerade erst. Meinen jetzigen Lebensabschnitt nenne ich gern „mein Leben 2.0“, da sich viele Dinge für mich grundlegend ändern. Begonnen hat er mit einer meiner größten persönlichen Krisen und mit der Hilfe, die ich im Zuge dieser endlich annehmen konnte: Ich begann eine Therapie. Man kann sich als Nichtbetroffene:r kaum vorstellen, was es heißt, die Gefühle und Gedanken zuzulassen, die einen das ganze Leben im Würgegriff hielten, und die Sicherheit aufzugeben, die die Verdrängung derer versprach. 

Es war hart und das ist es bis heute. Dennoch fühle ich mich besser denn je, ich kann endlich die Verantwortung für mich übernehmen, meine Kämpfe richten sich nicht mehr nach innen, ich kann als erwachsene Frau einfordern, was das Kind damals nur ohnmächtig erhoffen konnte und ich kann mich jeden Tag über die kleinen Dinge des Lebens, über die wunderbaren Menschen in meinem Leben und über meine großen und kleinen Fortschritte freuen. Der Kampf um Normalität hat mich viele Jahre gekostet, mein Leben besteht nicht nur aus Höhen und Tiefen, es besteht auch aus Schlängellinien und Staus. Dennoch habe ich gelernt, geduldiger mit mir und anderen zu sein – mir sei hier das Zitat unbekannten Ursprungs erlaubt „Beurteile nie ein Buch nach seinem Einband“.

Dieser Text wurde erstveröffentlicht im Buch „Nicht gesellschaftsfähig – Alltag mit psychischen Belastungen“.

Illustration rechte Seite: Schwarwel
„SEELENFRESSER – Erstes Buch: Liebe“