DER TOD UND ICH

von Wiebke Lüftner
Wiebke Lüftner
Jahrgang 1977, verheiratet, Bornholm
Aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen mit dem Tod arbeitet Wiebke an einem eigenen Buchprojekt und interviewt dafür Menschen und fragt sie nach deren persönlichem Umgang mit Trauer und Verlust.
Der Tod und ich – gefühlt seit meiner Geburt eine Beziehung, eine Verbindung, eine Berührung. Ich kam fast tot auf die Welt und hatte im Kleinkindalter jahrelang Licht-Tunnel-Erlösungs-Panik-Albträume, die ich erst 20 Jahre später einordnen konnte. Mein Vater verstarb beim Joggen an einem Herzinfarkt, als ich ein Teenager war, und kurz darauf sprang seine Mutter, meine Oma, aus dem Fenster. Auch einer meiner Exfreunde nahm sich das Leben und ein weiterer Freund erlag einem Krebsleiden. Alle paar Jahre schnitt der Tod eine Schneise in mein Leben.
Mit 29 Jahren lernte ich meine große Liebe kennen und nach nur drei Monaten wurde ich schwanger: mit Zwillingen. Wir haben uns total gefreut. Es gab Komplikationen während der Schwangerschaft; das Leben der Kinder und mein eigenes standen auf dem Spiel. Die Ärzte rieten in der 30. Woche zum Notkaiserschnitt, in der Hoffnung, dass so wenigstens eines der Kinder und ich überleben werden.
Unser kleiner Sohn, der gerettet werden sollte, starb am nächsten Tag an den Folgen einer Krankenhausinfektion. Sein Bruder, den die Ärzte aufgegeben hatten, lebte noch zwei Wochen und ist ihm dann gefolgt. In beiden Fällen mussten wir Eltern der Entscheidung, die Geräte abzuschalten, zustimmen. Wir hielten unsere Babys während ihrer letzten Atemzüge auf dem Arm.
Das ist jetzt 15 Jahre her. Es ist mit riesigem Abstand das Extremste, Schlimmste, Bedrohlichste und Vernichtendste gewesen, was ich je erlebt und gefühlt habe. Ein Schmerz in meinem Körper, meinem Hirn und meiner Seele, der mehrere Jahre alles in mir überschwemmt hat. Ich war mindestens ein Jahr durchweg damit beschäftigt, nicht hinterherzuspringen. Ich habe mich viel damit auseinandergesetzt, die Verbindung zu ihnen zu verändern, zu kappen, sie ziehen zu lassen, weil ich spürte, dass es mich vernichten würde, wenn ich mich daran klammerte. Auf der Beerdigung habe ich aus purer Verzweiflung eine riesige Schere visualisiert, die die Bänder zwischen ihnen und mir durchschnitt. Sie durften gehen. Ich blieb.
Neben der alles überschattenden Trauer fühlte ich mich als schlechte Mutter, die ihre Kinder nicht richtig versorgen konnte. Ich hatte Schuldgefühle, weil ich dem Kaiserschnitt so früh zugestimmt habe. Ich stand unter der Dusche und die Milch lief aus meiner Brust, aber da waren keine Babys mehr zu stillen. Dazu die Unfähigkeit zu arbeiten, zu spüren, nicht mehr zu funktionieren, nicht zu wissen, ob ich je wieder funktionieren kann und auch noch Stress mit den Behörden: Unsere Zwillinge sollten mit unterschiedlichen Nachnamen beerdigt werden, da einer vor und einer nach der Vaterschaftsanerkennung verstorben war.
Ich hatte bis dahin schon oft erlebt, dass sich mein Leben in ein Vorher-und-Nachher teilte, aber diesmal riss der Tod einen kilometertiefen Canyon in meine Biografie.
Heute sind meine Wunden verheilt. Die Narben sind für mich aber immer noch sichtbar. Wenn ich ein Bild für meine Trauerarbeit bemühen müsste, würde ich eine Schublade wählen. Ich weiß genau, was drin ist, aber sie ist nicht immer penibel aufgeräumt. Ich habe verarbeitet, eingeordnet, immer wieder rausgeholt, angeschaut und neu sortiert. Manchmal nehme ich etwas raus, manchmal kommt etwas hinzu, manchmal schaue ich ein Jahr lang nicht hinein.
Bis es soweit war, haben mir viele kleine und einige große Dinge geholfen, alles zu verarbeiten:
- Gemeinsam mit meinem Mann heulend durch den Wald zu laufen.
- Meine Schwester, die mit Lasagne vor der Tür stand, damit wir wenigstens irgendwas aßen.
- Meine Hebamme, die meinte, ich soll mir zehn Jahre Zeit für die Verarbeitung geben.
- Der Tipp, dass wir uns als Paar wie auf einer 8 bewegen, mal sind beide in der Mitte am gleichen Punkt, mal sind beide weit entfernt voneinander, mal ist einer in der Mitte und vermisst den anderen; wichtig ist nicht, dass man immer am gleichen Punkt innerhalb des Prozesses ist, sondern, dass man immer weiß, wo der andere gerade ist.
- Freundinnen und Familie, die einfach da waren, zugehört haben.
- Eine E-Mail einer unbekannten Frau, der das Gleiche vor Jahren passiert ist und die mir versprochen hat, dass alles wieder gut wird.
- Meine Therapeutin, die mir geholfen hat, meine Gefühle einzuordnen und mit mir Wege aus der Krise skizziert hat.
- Laufen. Sport. Ruhe. Musik.
- Rückblickend aber war es für mich am wichtigsten, dass ich in mir und um mich herum den Raum hatte, mich „nackt in den Sturm“ zu stellen, mich radikal damit auseinanderzusetzen, was passiert war und es zu bearbeiten. Ich habe mir tausendmal selbst erzählt, was passiert ist und in mich hineingehört, den Schmerz gesucht und ihn gefühlt. Auch auf die Gefahr hin, daran zu ersticken. Immer wieder. Mit riesiger Angst und Panik. So lange, bis es besser wurde. Ich dachte immer, ich muss eh eine Milliarde Tränen weinen, dann lieber jetzt, dann bin ich eher fertig.
Es fühlt sich angesichts des Todes der eigenen Kinder verrückt an, Erkenntnisse und Weisheiten daraus abzuleiten und vielleicht sogar Dankbarkeit für die Entwicklung zu empfinden. Denn natürlich würde ich für nichts in der Welt meine Jungs gegen irgendeine Erkenntnis tauschen. Aber ich hatte nicht die Wahl, sondern nur die Möglichkeit, etwas für mich mitzunehmen. Essentiell ist, dass ich mich heute viel besser kenne; ich weiß, wie ich in den extremsten Situationen reagiere und funktioniere, habe völlig neue Messlatten, wenn es darum geht, auszuloten, was wirklich schlimm ist und was nicht. Und genau diese Erfahrung entspannt mich, lässt mich meine Ruhe finden. Ich kenne meine Sollbruchstellen, Stärken und Schwächen sehr genau, höre meine eigenen Alarmglocken viel deutlicher als je zuvor. Natürlich kann ich mich nicht darauf verlassen, dass mir nie wieder irgendetwas derart Trauriges passiert, aber ich kann darauf vertrauen, dass ich wahrscheinlich fast alles, was auf mich zukommt, handhaben kann. Ich brauche mir keine Sorgen machen. Ich werde zur richtigen Zeit die richtigen Entscheidungen für mich treffen. Das klappt natürlich nicht immer. Aber immer öfter. Und je stärker dieses Gefühl wurde, desto besser kam ich mit meiner Trauer zurecht. Als hätte sich das Selbstvertrauen auf die andere Seite der Wippe gesetzt und ganz langsam meine Seele aus der tiefen Traurigkeit zurück ins Gleichgewicht balanciert.
Dieser Beitrag wurde erstveröffentlicht im Buch „#nichtgesellschaftsfähig – Tod, Verlust, Trauer und das Leben”.