ALL IS FULL OF LOVE oder: The End of the World as I know it

Foto: Mario Giordano 

von Matthias Hornschuh

Der Anfang vom Ende fiel auf den 8. Oktober 2016, meinen Geburtstag. Ich hatte nach Wochen im Ausnahmezustand bis in die Nacht den Schreibtisch leer gearbeitet und stand früh auf, um das Gepäck im Auto zu verstauen. Ein schneller Kaffee, dann half ich meiner Lebensgefährtin langsam die Treppe hinunter und brachte sie zum Wagen.

Daniela, von allen Danny genannt, war seit dem Spätsommer schmerzgeplagt und ständig müde gewesen, inzwischen war sie regelrecht erschöpft. Immer wieder war sie beim Arzt gewesen, aber es gab keine spezifischen Befunde. Dennoch war sie seit einigen Wochen krankgeschrieben. Auf die Frage, ob wir unter diesen Bedingungen in den Herbsturlaub fahren sollten, hatte der Arzt geantwortet: „Fahren Sie! Vielleicht bringts ja was.“ 

Es brachte nichts. Wir waren in der Bretagne und begriffen: Wir werden in ein anderes Leben zurückkehren, und wir haben keine Vorstellung davon, was es für eines sein wird. Denn spätestens, als Danny für die 150 Meter zum Strand eine Viertelstunde brauchte, als sie die Strecke nicht mehr ohne Pause schaffte, war klar: Das ist ernst. Wir vereinbarten aus Frankreich einen Termin beim Arzt. 

Während ich die ersten Sätze dieses Textes schreibe, sitze ich im selben Haus in Frankreich und erinnere mich. An den ersten und einzigen Gichtanfall meines Lebens, mit dem ich in Frankreich eintraf. An die 14 Monate unseres gemeinsamen Kampfes gegen Dannys Leukämie. An unsere Nottrauung auf der onkologischen Station der Kölner Uniklinik, zu der die Ärzte mir ein Stück Hochzeitstorte schenkten und ihr einen Liter Blutkonserve. An Komata, Kreislaufzusammenbrüche und Not-OPs, an Knochenmarktransplantations-, Intermediate Care- und Intensivstationen, an eine erste Rückkehr nach Hause, an die Herausforderung, von jetzt auf gleich einen keimarmen Haushalt führen zu müssen und mitten im Kölner Karneval einen Pflegedienst zu finden. An meine Schwiegereltern, die die komplette Kommunikation mit Krankenkassen und Behörden übernahmen und an meine Eltern und Brüder, die mich bei Begleitung und Pflege unterstützten. An den Verlust weiter Teile meines freiberuflichen Lebens als Komponist, aber auch an die Freunde und Kollegen, die immer da waren, wenn wir sie brauchten und die mir kleine Jobs zuschanzten: Recherche, Textarbeit – Dinge, die sich vom Krankenhaus aus per Tablet erledigen ließen. 

Es war ein entsetzliches Jahr. Eines, in dem jede vorstellbare und manche unvorstellbare Untiefe auf uns lauerte. Und doch war es ein leuchtendes und intensives Jahr voller Wärme, Nähe und Geborgenheit, eines, in dem wir auf rauher See manövrierfähig blieben und, wo nötig, Lotsen fanden. 

Foto: privat

Wie gut wir als Paar funktionierten, hatte sich in Frankreich gezeigt. Bedingt durch den Gichtanfall konnte ich die ersten beiden Tage kaum laufen; Danny musste mich zum Arzt bringen und begleiten. Es war, als hätte mein Körper bereits begriffen, dass ein Wendepunkt bevorstand, dass er und ich von nun an auf unabsehbare Zeit würden bedingungslos funktionieren müssen. Danny war, trotz ihrer Schwäche, jetzt für mich da, und es war das letzte Mal in ihrem Leben, dass sie im Wortsinne das Steuer übernahm. Doch sobald meine Tabletten wirkten, verkehrten sich die Verhältnisse – endgültig. Ich übernahm das Kochen, Einkaufen, Putzen. Für gemeinsame Ausflüge reichte Dannys Kraft kaum mehr, so gingen wir halt spazieren, Schritt für Schritt; ich stützte sie. Ich habe ein Foto von unserem letzten Versuch einer Radtour; mehr als 1 km haben wir wohl nicht geschafft; aber es war ein wunderbarer, sonnendurchschienener Kilometer. Überhaupt: Rückblickend waren diese 13 Tage ein unbegreiflich wertvolles Geschenk, gaben sie uns doch die Chance, uns unbehelligt vom Alltag, von unserem bisherigen Leben zu verabschieden und auf ein neues, ungewisses einzulassen. 

Eine Woche nach dem aus Frankreich vereinbarten Arztbesuch in Köln saßen wir beim Onkologen. Am Vorabend hatten wir gemeinsam Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten ausgefüllt. Mental waren wir bereits auf unsere neuen Rollen vorbereitet, nun wollten wir es auch formal sein. Drei Tage später, am 1. November 2016, wurde Danny auf die Onkologie der Kölner Uniklinik aufgenommen. Diagnose: Akute Lymphatische Leukämie (ALL). Einzige Überlebenschance: eine Knochenmarktransplantation (KMT). 

Von Anfang an war ich bei so gut wie jeder Visite und fast allen wesentlichen Behandlungsschritten anwesend, und wenn nicht ich, dann mein Bruder Tillmann. Schon in den ersten zwei Wochen zeigte sich, dass Danny aufgrund ihrer immer tieferen Erschöpfung  kaum dazu in der Lage war, zu antworten oder gar nachzufragen. Sie erinnerte sich oft nicht einmal daran, wie es ihr am Vortag gegangen, geschweige denn daran, was besprochen worden war. 

Unsere Nottrauung fand am 7. Dezember auf der Onkologie statt. Aus Gründen, die nicht hierher gehören, war es dazu in mehr als 26 Jahren nicht gekommen. Doch nun, in dieser existenziellen Ausnahmesituation, hatten all diese Gründe keine Bedeutung mehr: Im Vordergrund stand allein, uns bedingungslos zueinander zu bekennen und einander zu versichern. Danny nahm es ein wenig von der Angst und Ohnmacht, während es mir ein selbstverständliches Bedürfnis war, dieses Bekenntnis abzulegen. Zudem war für mich nun alles so viel einfacher: Ich konnte von „meiner Frau“ sprechen und wedelte seltener mit irgendwelchen Vollmachten. Außer der Station war niemand informiert, doch alle, die von unserer Ehe erfuhren, freuten sich riesig und waren sich einig: Total richtig – wer, wenn nicht ihr?! Und tatsächlich: Zwischen uns war alles klar. Nicht, dass wir zuvor keine gute und vertrauensvolle Beziehung geführt hätten, doch die neue, intensive und bedingungslose Qualität war spür- und greifbar und gab uns beiden Kraft. 

Foto: privat

Medizinisch lief es allerdings nicht so gut. Am Anfang hatten zwei erfolglose Versuche einer (quälenden) Knochenmarkpunktion gestanden, dann folgte der beschriebene schnelle Kraftverlust. Die Bestrahlung verursachte ein Hirnödem, das Danny ins Koma fallen ließ – am 2. Weihnachtsfeiertag, ihrem Geburtstag. Während die Ärzte fieberhaft nach den Ursachen suchten, versagte ihr Kreislauf, der Körper lief voller Wasser – nicht zum letzten Mal. Vier Tage nach einer Not-OP, als die Ärzte bereits begannen, sie aufzugeben, wachte sie auf. Ich war bis auf kurze Schlafpausen durchgehend an ihrem Bett gewesen, hatte mich an Pflege und Lagerung beteiligt. Immer und immer wieder hatte ich ihr zugeflüstert: „Ich bin hier. Ich bin bei dir.“

Es gab jede Menge weiterer ähnlicher Vorfälle; wir lernten die intensivmedizinischen Einrichtungen der Klinik weit besser kennen, als es uns lieb gewesen wäre. Immer war ich dabei; meist mehr oder weniger den gesamten Tag über. Das Handy machte ich auch nachts nicht mehr aus, um immer und überall erreichbar zu sein.

Ohne die übliche schonende Vorbereitungszeit wurde Danny im Januar auf die KMT-Isolierstation verlegt und auf die Transplantation vorbereitet, wozu zunächst ihr Immunsystem vollständig heruntergefahren werden musste. Das Jahr 2017 entwickelte sich für uns zu einem einzigen Auf und Ab. Abgründe und Momente der Hoffnung folgten aufeinander, doch irgendwann türmten sich immer neue Probleme auf – viele davon Folgen von alten, und zu viele auf einmal. Im Herbst wurde die Situation kritisch, nach mehreren Monaten aufreibender und intensiver Pflege zu Hause, unterbrochen von Klinikaufenthalten. Anfang Oktober wurde Danny erneut von der Uniklinik aufgenommen – zum letzten Mal. Wenige Tage später; ich war ausnahmsweise beruflich verreist, rief mich ein junger Assistenzarzt an: Er bezweifle, dass meine Freu noch therapiefähig sei. 

Zu diesemZeitpunkt häuften sich die Komplikationen und Nebenwirkungen, es kam zu schweren Abstoßungsreaktionen und schließlich wurde ein Rezidiv diagnostiziert: Die Leukämie war zurück. Zu diesem Zeitpunkt war Danny dermaßen am Ende ihrer Kräfte, so geplagt von Schmerzen und irreversiblen Schäden, dass die Vorstellung einer erneuten Tortur aus Chemo, Bestrahlung, Transplantation abwegig erschien. Doch ich war nicht bereit, aufzugeben und sie signalisierte mir gegenüber nicht, dass sie es wäre. Ein Jahr lang waren wir als Team aufgetreten; ich hatte sie die ganze Zeit über geschützt – und nun versuchte sie, mich zu schützen, indem sie sich mir nicht offenbarte. Ich war wohl so ziemlich der letzte, der es mitbekam, während sie längst wusste, dass es nicht mehr weiterging; das berichteten mir später die Psychoonkologin und die Krankenhausseelsorgerin. In langen Gesprächen mit den beiden und dem behandelnden Onkologen begriff ich, dass ich loslassen musste. 

Danny starb am Vormittag des 17. November 2017. Ein Freitag. Ich war die gesamte Woche über bei ihr gewesen, Tag und Nacht, nachdem die Klinik mich angerufen hatte: Es könne jetzt ganz schnell gehen. 

Sie starb, als ich gerade zu Hause duschte und frühstückte und Tillmann und mein Vater bei ihr waren. Die Ärzte hatten mich vorbereitet: Viele Sterbende wählen einen Moment, in dem der ihnen Nächste nicht an ihrer Seite ist.

Es war eine Erlösung.  


Ich bin hier. Ich bin bei Dir.
Du bist hier. Du bist bei mir.
All is full of Love.
(Text der Trauerkarte)

Foto: privat

Krankheitsgeschichten gibt es viele. Erschütternd sind die meisten, weil sie uns die Gewissheit nehmen, es werde schon nichts passieren: uns doch nicht! Was natürlich Quatsch ist. Shit happens. 

Warum also gerade diese Geschichte erzählen? Meine Hoffnung ist: weil sie Mut machen und Kraft spenden kann. Weil sie von dem berichtet, was ich erlebt habe und was mir geholfen hat. Und: weil die Hilfe bereits da beginnt, wo man begreift, dass man, anders als der Bauch es einem in dunklen Nächten erzählen will, mit seinem Leid und seinem Erleben nicht allein ist. Sondern einer von unendlich vielen, die aber in aller Regel zu wenig voneinander wissen und viel zu selten Anlässe haben, miteinander ins Gespräch zu kommen. 

Eigentlich aber ist es so: Ich muss diese, unsere, meine Geschichte erzählen. Sie will verarbeitet werden und lässt keine Ruhe. Da geht es zunächst mal alleine um mich, um meine Trauer, den radikalen Veränderungsprozess, den ich durchlaufen habe und dessen Ende nicht abzusehen ist. 

Also muss ich von mir erzählen. 

Als Künstler, Geisteswissenschaftler und Hochschullehrer ist es Teil meiner DNA, Selbstbeobachtung, -beschreibung und -reflexion zu betreiben. Das ist nicht immer angenehm und führt schon mal zu nagendem Zweifel, nicht zuletzt, weil bei einem wie mir Person und Profession kaum zu trennen sind. Aber es bedeutet auch, dass ich in der Lage bin, ziemlich präzise Beschreibungen und Bestandsaufnahmen meiner selbst zu formulieren. In diesem Jahr aber habe ich mich neu kennengelernt. Ich habe neues Urvertrauen gefunden, nicht in irgendein gnädiges Schicksal, sondern zunächst einmal in mich. Es tut unglaublich gut, zu wissen, dass man sich in einer existenziellen Situation wie dieser auf seine innere Stärke verlassen kann, auf einen Kompass, der im Handumdrehen die Prioritäten sortiert und einen die Dinge tun lässt, die halt zu tun sind. Irgendwann, den Anlass weiß ich nicht mehr, poppte ein irritierender Gedanke auf: Ich bin erwachsen! Es war das erste Mal in meinem knapp 50-jährigen Leben, dass ich diese Empfindung, diese Klarheit hatte. Nie hatte ich mit dem Konzept „Erwachsensein“ etwas anfangen können; immer hatte ich mir so viele Optionen wie möglich offengehalten, und stets hatte ich mich gefragt, ob die Leute einem eigentlich etwas vormachen, wenn sie so vermeintlich sicher, selbstverständlich und unbeirrt durch ihr Leben gehen. Der Andrang auf Therapien und Lebenshilfe jeder Art lässt mich anderes vermuten. Doch nun gab es diesen kristallklaren Moment, in dem ich begriff, dass ich wusste, wo mein Platz war, was zu tun war und dass das so richtig war. Eine unglaubliche Entlastung.

Immer wieder habe ich erfahren, dass eine Strategie, die psychologisch als „radikale Akzeptanz“ bezeichnet wird, in akuten Krisensituationen meine Handlungsfähigkeit bewahrt hat. Eine Art stoischer Unbeirrtheit, die grundsätzliche Entscheidung, keine Energie auf ein „Kann doch wohl nicht wahr sein!“ zu verschwenden, sondern mich unmittelbar dem „Was ist zu tun und wo gehts weiter?“ zu widmen. Das Umschalten der Betriebsmodi geschieht bei mir sehr schnell und unmittelbar und führt zu einem Zugewinn an Orientierung und Klarheit. Damit ist allerdings durchaus auch eine Gefahr verbunden, nämlich die, veränderte Verhältnisse schnell hinzunehmen, was keineswegs immer angemessen ist. Gut also, wenn man sich hier komplementär ergänzen kann, etwa in einer Partnerschaft. Oder in einem Team. 

Daher waren die Menschen so wichtig, die an unsere und meine Seite traten, die einfach da waren, ansprechbar, mitfühlend und -denkend, aufmerksam und zugewandt, und die ganz selbstverständlich Verantwortung übernahmen. Besuchspläne und Einkäufe wurden organisiert; wenn ich nicht konnte, kochte oder wachte jemand anderes; für jede potenziell folgenreiche Entscheidung gab es jemanden, der mitdachte. Diese Menschen waren der Grund, dass ich das alles ertragen konnte. Denn natürlich war ich überfordert, selbstverständlich war ich mit Angst und Ohnmacht, Schmerz und Unsicherheit konfrontiert. Dass ich nicht bitter oder gar zynisch geworden bin, das hat viel mit den Menschen zu tun, die uns umgaben und mich nach wie vor umgeben, über die ich staune, mich freue, und aus denen ich damals Kraft ziehen konnte, wenn meine nachließ. 

Für mich war es ein großes Glück, dass ich die Gelegenheit hatte, Danny auf dem gesamten Weg zu begleiten, bis zum Ende. Ich konnte tatsächlich die Erlösung, die in diesem Tod lag, empfinden – was dem Schmerz und der Trauer übrigens nicht im Wege stand. Es war ein Glück, dass auch unsere Freunde noch Gelegenheit zum Abschiednehmen hatten. Sie kamen zu uns ins Krankenzimmer; mit bis zu 17 Leuten saßen wir zeitweise in dem kleinen Raum. Es war würdevoll, friedlich und ruhig, tieftraurig und teils auch heiter. Es wurde geweint und gelacht. Es war unwirklich, bedeutungsvoll und unermesslich wertvoll – für jeden Einzelnen von uns. Diese Momente werden jeden von uns für immer begleiten. Ich bin ganz sicher, dass Danny, obwohl sie nicht mehr reagieren konnte, gespürt hat, wie umsorgt und geliebt sie in diesen letzten Tagen war. Am Abend ihres Todes saßen wir mit mehr als 20 Leuten zusammen. Eine brachte eine Suppe mit, einer eine Quiche, ein anderer Rotwein, alle ihre Trauer. Wir erinnerten uns, erzählten, zeigten uns Fotos und begannen gemeinsam, die Trauerfeier zu planen. 

Diese fand 14 Tage später, am 01.12.2017, statt. Ein heller, sonniger, kalter Morgen auf dem wunderschönen Kölner Melatenfriedhof. Ich hatte die Zeremonie, gemeinsam mit einem Freund der Familie, der sie leitete, bis aufs Wort und im Detail geplant; dabei hatten wir versucht, eine ausgewogene Balance aus christlichen Liturgien und freier Form zu finden, um möglichst allen Gästen gerecht zu werden und niemanden zu verprellen. Nicht gerechnet hatte ich allerdings mit der Anwesenheit der letzten Schulklasse von Danny; gemeinsam hatten sie nach den Sommerferien an einer neuen Schule begonnen. Ich machte mir angesichts der Emotionalität der Zeremonie Sorgen um die Kinder und besuchte sie daher einige Wochen später, um mit ihnen ein langes und bewegendes Gespräch zu führen. Ein weiterer Moment, der so besonders und berührend war, dass ich ihn nie vergessen werde. 

Eine Freundin, eine großartige Geigerin, hatte angeboten zu spielen, was ein wertvolles Geschenk war, weil es mich in diesem Punkt entlastete – und weil es atemberaubend schön war. Ich hätte es wohl sonst selbst versucht – und wäre, wie ich rückblickend weiß, daran gescheitert. Die großartige, warmherzige Krankenhausseelsorgerin trug ein Gedicht vor, es gab einen mitreißenden Beitrag sehr guter Freundinnen, und ich hielt eine Rede, an der ich lange und intensiv gearbeitet hatte. Dummerweise konnte ich sie nicht vorlesen; die Tränen in meinen Augen waren nicht eingeplant. Also musste ich sie aus der Erinnerung frei vortragen.

Anschließend feierten wir zusammen bis spät in den Abend. Wiederum hatten Freunde und Familie sich um alles Wesentliche gekümmert: Raum, Essen und Getränke, Anlage und Musik, Slideshow mit Erinnerungsbildern, Tischschmuck. Es war bewegend, berührend, beeindruckend … Es war wunderbar. 

Und erst dann, nachdem alles hinter mir lag, wurde ich krank. Zum ersten Mal nach all der Zeit. 

Es war nicht schlimm; mir war nur die Energie ausgegangen. Die Weihnachtstage und Dannys Geburtstag waren müde und leer. 

Foto: privat

Ende Januar begab ich mich auf eine erste lange Reise. Ich fuhr mit unserem alten Auto, das uns durch halb Europa gebracht hatte, quer durch Deutschland. Ich besuchte Menschen und Orte, die uns wichtig gewesen waren, und verbrachte zehn Tage an der Ostsee, in der Wohnung von Freunden. Von hier aus startete ich in ein neues Jahr und in ein neues Leben, und ich wusste: Es würde radikaler sein, kompromissloser, Sinn-voller. Tatsächlich spreche ich heute gelegentlich von Sinnsucht; es ist mir noch nie in meinem Leben so schwer gefallen, Dinge zu tun, deren Sinnhaftigkeit mir nicht einleuchtet (und das ist ganz sicher nicht nur gut). Für mich liegt in dieser Sinnorientierung eine intensiv zu spürende heilsame Kraft. Dabei geht es nicht darum, einen Sinn im Leid und Elend zu behaupten, sondern es geht darum den Sinn im Leben nicht aus dem Blick zu verlieren.

Auf den Tag genau ein Jahr nach Dannys Tod verbrachte ich den ersten ganzen Tag in meiner neuen Wohnung. Die Terminüberschneidung war mir im Umzugs- und Terminwahnsinn schlicht nicht bewusst geworden. Aber meinen Freunden. An diesem Tag waren sie da. Wir putzten, räumten, planten, besuchten das Grab und tranken bis spät in die Nacht gemeinsam Wein. Es war traurig, warm, lustig, lebendig. Es war wertvoll. Ich begriff, dass ich diesen Tag ohne meine Freunde kaum hätte ertragen können. Wie so viele zuvor.

Im November 2019 jährte sich Dannys Todestag zum zweiten Mal. Diesmal wusste ich vorher, welche Bedeutung der Tag für mich haben würde. Am Abend war die Wohnung voll. Es waren fast 40 Leute da, Familie und Freunde. Und es war gut. Wir haben gegessen und getrunken, haben uns gemeinsam erinnert und Spaß gehabt, sind traurig gewesen und haben gefeiert. Und keiner von uns war alleine. 

„Viele von Euch haben mich & uns begleitet auf diesem langen Weg.
Dafür war Danny, dafür bin ich wahnsinnig dankbar; das hat uns viel Kraft gegeben. 
Ich blicke – nicht zuletzt deswegen – zurück auf ein aufreibendes Jahr voller dunkler Momente, das in meiner Erinnerung aber ein warmes und strahlendes ist, denn viel verbundener und zugewandter, als wir es in dieser Zeit waren, kann man vermutlich kaum sein. Letztlich haben uns die Ärzte und die Knochenmarkspenderin ein sehr wertvolles Jahr geschenkt. 
Wir hatten gemeinsam siebenundzwanzigeinhalb Jahre, davon ein knappes als Ehepaar, wobei das letzte Jahr vor der Erkrankung für Daniela wohl sicherlich das beste ihres Lebens war. 
Keine schlechte Bilanz.“

Aus einer Mail mit dem Betreff
„The end of the world as I know it“, 17.11.2017

Die Leere bleibt. 

Doch mein Leben danach ist erfüllt. Meine Familie ist super, mein Freundeskreis ist toll, die neue Wohnung ist meine neue Heimat und das Viele, was irgendwie zu meiner Arbeit gehört, stiftet Sinn, macht Spaß und entwickelt sich weiter. Ganz allmählich entsteht immer mehr Musik für ein Soloalbum, das sicher einiges mit Tod, Abschied und Trauer zu tun haben wird. Und auch wenn ich unsicher war, ob ich das noch kann und überhaupt schon wieder darf: Inzwischen habe ich eine neue Beziehung, die mir und meiner Partnerin gut tut. Ich war viel alleine – aber keinen Moment einsam. 

Ich habe gelernt, um Hilfe zu bitten. Gezielt und verbindlich, im Wissen darum, dass es gelegentlich eine Zumutung war. Ich konnte erleben, dass viele Menschen dankbar sind, wenn man sie konkret anspricht und um etwas bittet. Ich rede über meine Trauer, ich schreibe darüber. Ich vermute, dass das mitunter eine Herausforderung sein kann. Oft aber erlebe ich Dankbarkeit und große, emotionale Offenheit. Mehr noch als zuvor empfinde ich heute daher eine tiefe, warme Zuneigung zu den Menschen. Ich habe so viel Gutes in ihnen gefunden. Mir scheint. dass es mir viel leichter fällt, das Gute zu sehen, nach den Abgründen, die ich kennengelernt habe. Ein Gedanke wie „Was soll schon noch kommen …?!“ kann durchaus heilsam  sein. 

Unser uraltes und erstes gemeinsames Auto musste mittlerweile weichen. Bis heute aber lebe ich umgeben von Bildern, Gegenständen, Erinnerungen, die auf unser gemeinsames Leben verweisen. Ich habe keinen Altar errichtet und kein Museum gebaut. Das war nicht nötig, denn ich habe den Verlust der Frau, mit der ich mehr als die Hälfte meines Lebens verbracht habe, akzeptiert und bin in meinem neuen Leben angekommen. Doch Danny ist ein Teil davon und wird es immer sein. Ich würde es nicht anders wollen.

Dieser Beitrag wurde erstveröffentlicht im Buch „#nichtgesellschaftsfähig – Tod, Verlust, Trauer und das Leben”.

Foto: privat