DER TOD IM HORRORFILM

von Ralf Donis
Nicht ganz einfach ist das Unterfangen, über den Tod im Horrorfilm zu berichten, stellt er doch das narrative Zentrum in eben jenen, oft sehr blutverschmierten Genrestreifen dar. Hierüber einen zusammenfassenden Text zu verfassen, gibt sich ungefähr so schwierig, als wenn man sich auferlegt hätte, eine Abhandlung über skandinavische Popmusik zu entwickeln, in welcher man aber die schwedische Band ABBA außen vorlassen möchte. Ähnlich hart wäre es wahrscheinlich, über „Den Kuss im Liebesfilm“ zu referieren. Ich werde es trotzdem versuchen.

Der Tod, das Sterben, das Töten und die Angst vor dem meist „unfriedlichen“ Ableben und vor den ausführenden Tätern, sei es Mensch, Maschinenmensch, Tier, Monster, Geist, Dämon oder Virus bilden im Großteil des kontemporären Horrorfilms die Grundsubstanz. Im Jahre 1895 erschien die 15-sekündige US-Produktion „The Execution Of Mary: Queen Of Scots“ unter der Regie von Alfred Clark. Hier wird die Enthauptung von Mary Stuart inklusive des erstmaligen Einsatzes von Stop Motion-Technik gezeigt. Der als Queen Mary verkleidete Darsteller Robert Thomae wird dort zum Schafott geführt und kurz vor der Köpfung mit einer Puppe ausgetauscht. Dieser frühe Stummfilm gilt nicht nur als erster Historienfilm, sondern eben auch als erster, nachweisbarer Vertreter der Horrorfilmgeschichte. Schockiert liefen die Menschen aus den Lichtspieltheatern, in dem Glauben, einer real abgefilmten Exekution beigewohnt zu haben. Der Horrorfilm machte sich also von Anfang an die Urangst des Menschen vor dem Sterben und dem daraus resultierenden Verlust zu Nutze. Dies geschah über die Jahrzehnte bis heute natürlich in diversesten Darreichungsformen, welche wiederum an verschiedene Horrorfilm-ästhetische Epochen, aber auch an die jeweiligen Werkzeugkästen der Regisseure oder Produktionsfirmen gekoppelt waren und noch sind.
Der französische Stummfilmmacher Georges Melies drehte zwischen den Jahren 1896 und 1913 über 500 Filme, in denen er, ähnlich den Brüdern Lumiere, neben historischen Begebenheiten und Prä-Science Fiction (bis heute bekanntester Melies-Film „Die Reise zum Mond“ nach Jules Verne von 1902) auch menschliche Abgründe, Angstmechanismen und den Tod als solches thematisierte. Dies geschah inmitten eines gespannten Bogens zwischen Dilettantismus und überdimensional nach oben geschraubter, theatraler Dramatik. Der Tod war für den Zuschauer ein weit entferntes, überhöhtes Grauensszenario und bei Weitem nicht so bedrohlich greifbar, wie es der moderne Horrorfilm ab den 1960ern bewerkstelligen sollte.
Außerordentlich tief in das Antlitz des Todes schauten die deutschen Regisseure der 1910er und 1920er Jahre. In Fritz Langs „Das Cabinet des Dr. Caligari“ von 1919/20, laut René Clair „ein Triumph des Intellekts“, der „immer wieder gespielt werden (wird), bis die Kopien zerschlissen sind“, macht der titelgebende Doktor mittels eines Somnambulen (Schlafwandlers) namens Cesare von sich reden. Hier führt sozusagen der Tod narrativ schon gleich zu Anfang ideell die Regie, indem Cesare dem Studenten Alan auf einem Jahrmarkt weissagt, dass sein Leben nur noch bis zum nächsten Morgengrauen andauere. Alan wird dann tatsächlich auch zu vorausgesagter Zeit ermordet und noch viele weitere Figuren fallen diesem surreal anmutenden Grusel-Kammerspiel zum Opfer. Nicht zuletzt auch der zu Tode gehetzte Somnambule selbst. Der Autor Rudolf Kurth beschrieb 1926 Langs Todesvisualisierung u. a. so: „Ein kleines, norddeutsches Städtchen, verwittert, winklig und schon wie eine Legende geworden. Mit dem starren Mechanismus von Uhren läuft das Leben ab, pulst aus von der gewichtigen Stadtschreiberei, pulst zurück von der Peripherie wohlhabender Patrizierhäuser durch kleine Handwerkerhütten – zurück zur Wohllöblichkeit des Stadthauses. Da schreit es nachts auf: Mord! Da rinnt es durch die Straßen: Mord! Wie ein sinnlos drohendes Phantom in dieser respektablen, sauberen Welt, düster und blutig: Mord!“ (aus „Expressionismus und Film“). Lang verlegte also teilweise seine Mord- und Todesvisionen partiell an sterbende oder schon gestorbene Schauplätze, um sich und uns der abgefilmten Vergänglichkeit gleich doppelt zu versichern. Auch wird hier erstmalig eindrucksvoll mit einem Angstkino-Grundkanon, nämlich des Eindringens von Grauen in eine bislang sicher wirkende Umwelt, gearbeitet. Ein Ur-Film also auch innerhalb dieses Themenkomplexes.



In Friedrich Wilhelm Murnaus Vampir-Opus „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“ von 1922 spielt der Tod natürlich eine noch übergeordnetere Rolle, geht es doch schließlich darum, als Vampir den Tod für alle Ewigkeit zu überdauern. „Fieberschauer und Alpdruck, Nachtschatten und Todesahnung, Wahnsinn und Geisterspuk werden hier in die Bilder düsterer Berglandschaften und stürmischer See gewoben“ (Hahn/Giesen „Das neue Lexikon des Horrorfilms). Im Gegensatz zu „Das Cabinet des Dr. Caligari“ geht das Grauen hier nicht inmitten des technischen Fortschritts auf die Jagd nach Seelen, sondern koppelt sich an märchenhafte Naturmythen an. Vampire werden uns hier erstmalig wie später immer und immer wieder als Kreaturen vorgestellt, welche den Tod zwar „überlisteten“, aber gerade dadurch von einer viel tiefer greifenden Einsamkeit heimgesucht werden. Gerade die Gothic Horror-infizierten, britischen Vampirfilme der Hammer Productions verfeinerten diese Todesnarration in den 1950er und 1960er Jahren noch sehr eindrücklich.
James Whales „Frankenstein“ von 1931 darf als einer der Horrorfilme der 1930er Jahre überhaupt gelten. Hier entwickelt der Wissenschaftler Frankenstein eine technische Apparatur, mittels der er ebenfalls den Tod und die aus dem Tod resultierenden Verluste „übertölpeln“ möchte. Er erweckt bereits gestorbene Organismen zu neuem Leben, ohne darüber zu sinnieren, welche Auswirkungen seine „erfolgreichen“ Testergebnisse tätigen. Sein zum Monsterdasein verdammtes Geschöpf produziert innerhalb seiner ausweglosen Einsamkeit einzig und allein neue Tode und Verluste. Mary Shelleys Roman und alle daraus geförderten Verfilmungen dürfen also durchaus als weitere Schlüsselgeschichten innerhalb dieses Themenkomplexes gelesen werden.
Wenig später folgten Hitlers Machtergreifung und der 2. Weltkrieg als realer Horror inklusive millionenfachem Tod und Verlust, wovon sich auch der internationale Horrorfilm hernach nur schwerlich erholte.



Noch vor Kriegsende, nämlich 1943, entstand Jacques Tourneurs Zombie-Epos der „Alten Schule“ namens „Ich folgte einem Zombie“. Hier erzeugte man mittels Voodoo-Zauber einen todesähnlichen Dämmerzustand bei Menschen, um jene Opfer für diverse Komplotte und Tötungsabsichten willfährig zu machen. Das klassische Zombietum also, ganz im Gegensatz zur später, erstmals durch George A. Romero erzählten, modernen Untoten-Historie. Innerhalb dieser frühen Voodoo-Märchenhaftigkeit paktierte man also via diverser Zaubersprüche mit dem Tod und einer todesähnlichen Gemütslage, um im schlimmsten Falle neuerlichen Tod zu erzeugen. George A. Romero münzte 1968 mit seinem „Die Nacht der lebenden Toten“ den Zombiemythos um. Statt Voodoozauber ließen nun von Menschen geschaffene Giftstoffe, später Viren etc. die Toten wieder aus ihren Gräbern steigen, um ihrem Hunger nach (noch) nicht infizierten Mitbürger*innen zu stillen. Diese Untoten-Zeichnung hielt allein Romero für vielzählige Fortsetzungen durch, der italienische Exploitationfilm übertrieb all dies in unfassbare Skalenwerte und bis heute erfreut sich selbiger Untoten-Typus unkaputtbarer Beliebtheit, siehe u. a. das „The Walking Dead“-Serial. Gerade im modernen Zombiefilm steht das Thema Tod und Verlust als angsteinflößendes Massenphänomen zur Disposition, welches mitnichten regelbar erscheint, wenn man nur an die Türme zombiefizierter Menschen in „World War Z“ denkt. Wir sprechen hier also über eine Königsdisziplin in Sachen Todes- und Verlustfilm.
Die 1950er Jahre aalten sich im Glanze der schon erwähnten, rustikalen und schlichtweg schönen Gothic Horror-Werke der britischen Hammer Productions und ähnlich agierender Produktionsfirmen. Die Vampir- oder auch Werwolf-Streifen mit Christopher Lee, Peter Cushing oder Oliver Reed befinden sich zu Recht bis heute in aller Horrorfilmfan Munde. Aber auch italienische Ausnahmeregisseure wie Mario Bava oder Riccardo Freda sind in Sachen klassischen Gothic Horrors natürlich unumgänglich. Hinzu gesellten sich in jenem Jahrzehnt dystopische Themen, erweckt durch vom Menschen geschaffenem technischen Fortschritt, der nicht immer auch Fortschritt bedeuten sollte. Frühe Tierhorrorfilme wie „Formicula“ oder „Tarantula“ gingen mit der Erprobung neuzeitlicher Waffentechnik ins Gericht und dienten nebenher aus US-Sicht auch der Durchführung des Kalten Krieges mit cinematografischen Mitteln. Nun waren nicht nur mordlüsterne Menschen, verschrobene Mythen oder geschaffene Monster Gegner des Menschen, sondern Tiere, die durch das Zutun des Menschen erst zu Monstern wurden.
Im Jahre 1960 ermöglichte Alfred Hitchcock mit seinem epochalen Schauerwerk „Psycho“ den folgenschweren Schritt zum modernen Horrorfilm. Der Motelbetreiber Norman Bates ertrinkt hier förmlich in seinen mannigfaltigen Psychosen und Wirrungen. Außerdem steht er in Kontakt mit seiner eigentlich längst gestorbenen Mutter, welche im Hinterhaus ihr scheinbar untotes Leben fristet. Da Bates, hervorragend gespielt von Anthony Perkins, in insgesamt vier Teilen, sich in allen Lebenslagen am Ende doch von der Mutter, zumindest in seinem Kopf, leiten lässt, entsteht hier zum Einen ein weiterer, in diesem Falle eigentlich unliebsamer Pakt mit dem Tod. Auch wird hier sehr früh das Thema Nekrophilie in den Diskussionstopf geworfen. Ein Sujet, welches später von Tobe Hooper in „Texas Chainsaw Massacre“ oder noch später von Jörg Buttgereit in den „Nekromantik“-Filmen dramatisiert wurde.



Auch in Italien entstand eine neue Variante des Angstkinos. Gialli gelten als besonders Horror-affine Kriminalfilme, in welchen italienische Krimi-Groschenhefte mit gelbem Einband adaptiert wurden. Einzig die Morde gaben sich sehr viel plastischer und härter eingefangen, als aus handelsüblichen Krimis bekannt. Auch hier tat sich der schon erwähnte Mario Bava u. a. hervor, aber auch der Meisterregisseur Dario Argento sammelte auf diesem Gebiet erste Meriten.
Die 1970er Jahre standen im Zeichen des heute auch schon klassischen Slasherfilms. Als aber damals John Carpenter seinen Michael Myers in „Halloween – Die Nacht des Grauens“ oder Sean S. Cunningham seinen Jason Vorhees in „Freitag der 13.“ auf die Kinogemeinde losließen, war Angstschweiß an der Tagesordnung. Die Täter kamen nun nicht mehr aus Gruselmythen-Büchern oder aus dem Weltall, sondern aus der Nachbarschaft. Und eben dieses nachbarschaftliche Grauen markierte einen neuen, eben sehr nachvollziehbaren Typus des Todbringens. Und die damals dort austarierten Angstmechanismen tätigen auch in den Horrorwerken der heutigen Zeit ihre unwiderlegbare Wirkung. Ein Pionier des Slasherfilms, der schon erwähnte Dario Argento, begann genau da, andere Wege zu gehen. Seine Drei-Mütter-Trilogie mit den Filmen „Suspiria“, „Horror Infernal“ und (leider auch) „Mother Of Tears“ begab sich wieder ins Übernatürliche und berichtete über die drei von Hexen bewachten Tore zwischen Erde und Hölle. Gerade in „Suspiria“ von 1977 ästhetisierte er in seinen prallen, farbenfrohen Bildern das Töten und den Tod auf das Kunstvollste. Die hinzu gereichten, überlangen Kamerafahrten und die außergewöhnlichen Scores der italienischen Jazzrock-Formation Goblin gaben und geben dem Sterben, dem Tod und so auch dem Verlust etwas im absolut positiven Sinne Museales.
Ab den 1980er Jahren haben wir es mit einer schlichten Taktstraße im Horrorfilm-Erzeugungsbereich zu tun.Von hier an und bis heute ging und geht da alles, was Tod und Verlust in den vermeintlich sicheren Haushalt transportieren kann. Bezahnte Nacktschnecken, fleischfressende Küchenschaben, fortschrittsfeindliche Hinterwäldler, Horrorfilm-Historie-beschlagene, messerschwingende Maskenträger, kannibalistische Serienmörder, krebskranke, strafende Fallensteller und inmitten von Tornados an Land gefegte, blutrünstige Mörderhaie. Alle brachten und bringen, mal unterhaltsam, mal scary und auch mal lächerlich Tod und Verlust zu uns.



Speziell würde ich zum Schluss allerdings die wunderbare Renaissance des eigentlich immer gegenwärtigen Geister- und Dämonenfilms seit Ende der 1990er Jahre herausheben wollen. Hier befinden wir uns schließlich einmal mehr an einer verschwommenen Grenze zwischen Leben und Tod. Geht es doch um Verstorbene, die aus verschiedensten Gründen nicht „zu ihrer wohlverdienten Ruhe“ finden oder um böswillige Dämonen, welche sich den diesseitigen Menschen als Wirt erkoren haben, um irdisch dem Teufel zu dienen. Ausgehend von Klassikern wie „Bis das Blut gefriert“, „Rosemaries Baby“ oder „Der Exorzist“ entstanden in den letzten Jahrzehnten moderne Meisterwerke des Geister- und Dämonenwesens. Hideo Nakatas „Ring“ und Takashi Shimizus „Ju-On – The Grudge“ ereilten uns aus Richtung Fernost und die Werkstatt Leigh Whannell/James Wan bescherte uns klassische Geister- und Dämonen-Franchises der Güteklasse „Conjuring“, „Insidious“ und „Annabelle“, allesamt klassizistisches Angstkino und doch immer tiefergehender als der Torture Porn der Marke „Hostel“ oder der „Saw“-Fortsetzungen.
Wagenladungen an Subgenres, Filmen, Regisseuren, Inspirationen, Deutungen und Interpretationen hätten hier noch abgehandelt werden müssen. Der Horrorfilm ist das Subgenre, welches in erster Linie und immer vom Tod und Verlust lebt. Und wir schauen diese Filme, weil wir uns vor der Leinwand, der Mattscheibe oder dem Laptop in einer (vielleicht auch trügerischen) Sicherheit wähnen. Die Zombies in Lamberto Bavas „Dämonen“ überwältigten einst schließlich auch die Kinoleinwand und Sadako stieg 1999 in „Ring“ ebenfalls aus dem TV-Gerät. Und doch dient der internationale Horrorfilm eben vor allem dem für uns recht spielerischen Umgang mit den eigentlichen Tabuthemen Tod und Verlust. Einer der Gründe, denke ich, dass dieses geliebte und gehasste Subgenre einen solchen Magnetismus auf uns ausübt. Bei mir funktioniert das jedenfalls immer noch sehr gut.
Dieser Beitrag wurde erstveröffentlicht im Buch „#nichtgesellschaftsfähig – Tod, Verlust, Trauer und das Leben”.
