RWANDAN DAUGHTERS „Jegliche Menschlichkeit vernichtet“
Interview mit Olaf Heine
von Schwarwel und Sandra Strauß

Der Völkermord in Ruanda jährte sich 2019 zum 25. Mal. Noch immer sitzt das Trauma tief und spaltet die ruandische Gesellschaft. Fast eine Million Menschen fielen dem Genozid 1994 zum Opfer, etwa 250.000 Frauen wurden vergewaltigt. Heute leben Täter und Opfer Tür an Tür. Olaf Heine hat für den Fotoband „Rwandan Daughters“ die Frauen und ihre durch die Vergewaltigungen gezeugten Kinder porträtiert. Es entstand in Zusammenarbeit mit der ora Kinderhilfe, die die Betroffenen vor Ort psychologisch und finanziell unterstützt.
Sandra: Was war der Anfangspunkt des Projekts?
Olaf: Ein ehemaliger Nachbar von mir hat das ora Kinderhilfswerk geleitet und vor ein paar Jahren meine Frau und mich gefragt, ob wir ihm helfen könnten. Die Organisation ist eine so genannte Mikro-Organisation, das hat den Hintergrund, dass so viel Geld wie möglich in die weltweiten Projekte vor Ort fließt und weniger in der Administration in Deutschland hängenbleibt. Die Öffentlichkeitsarbeit fiel da immer etwas hinten runter, deshalb hat er sich an uns gewandt. Während eines Gesprächs erwähnte er eines der Projekte in Ruanda, das die Opfer des Völkermordes betreut. Mich interessierte der Genozid, weil wir aus einem Land kommen, das einen eigenen Völkermord hatte. Als junger Mann habe ich meine Großeltern immer mit Fragen genervt: „Warum habt ihr nichts gemacht im Dritten Reich und wie konnte das passieren?“ Um dann festzustellen, dass Anfang der 1990er wieder die ganz Welt wegschaute inklusive mir selbst, weil ich zu sehr mit mir selbst und meiner Entwicklung als Fotograf beschäftigt war. Ruanda stand einfach nicht im Zentrum des weltweiten Interesses und mit Bosnien war es ja dann ein paar Jahre später genau das Gleiche. Ich habe mich erst Jahre später damit befasst, hab mich auch geschämt, weil man das ja schon in den Nachrichten gesehen hatte, und fand es abscheulich, dass so etwas in der heutigen Zeit noch stattfinden kann. So bin ich dazu gekommen, es hat mich dann einfach interessiert.
Dazu kommt, dass meine Schwägerin bei der UNO arbeitet, die eine tragende Rolle in dem Konflikt spielte – die Blauhelme. Die wurde ja instrumentalisiert und weggebissen und nur so konnte dieser Völkermord dort damals stattfinden. Ich habe dann das Buch „Shake Hands with the Devil“ von Roméo Dallaire gelesen. Er war 1994 Kommandant der UN-Friedenstruppe in Ruanda und saß an einem Tisch mit den Hutu-Milizen, die den Genozid orchestriert haben. Und er schreibt, wenn er damals den Rückhalt der UNO und der Weltbevölkerung gehabt hätte, wäre das zu verhindern gewesen. Aber in Ruanda ist halt nichts zu holen. Die Amerikaner hatten vorher die Auseinandersetzungen in Somalia, wo der Black Hawk Hubschrauber abgeschossen wurde und mehrere GIs getötet wurden. Clinton wollte so etwas nicht wieder haben, also hat sich keiner dafür interessiert. Alle haben weggeschaut.
Lange Rede kurzer Sinn – als wir mit unserem Nachbarn am Tisch saßen, erzählte er „wir unterstützen die Kinder der im Genozid in Ruanda vergewaltigten Frauen“ und dann musste ich das erst einmal lernen: Man wusste zwar, dass damals knapp eine Million Tutsi und befreundete Hutus innerhalb von drei Monaten bestialisch ermordet wurden. Aber dass eine viertel Million Frauen in dieser Zeit vergewaltigt worden waren und das systematisch als Kriegswaffe eingesetzt wurde, das war mir nicht bewusst. Und das ist bis heute noch in Konfliktgebieten der Fall, z. B. in Syrien. Der Fakt, dass Frauen in bewaffnete Auseinandersetzungen oft die wahren Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt sind und Vergewaltigungen ganz gezielt als Instrument zur Ausübung von Terror eingesetzt werden, das will mir nicht in den Kopf. Da empfinde ich nach wie vor Verwirrung und Hilflosigkeit darüber, dass das in der heutigen so aufgeklärten Zeit stattfinden kann. Fasziniert bin ich wiederum davon, dass diese Frauen, weil da ja eine ganze Männergeneration ausgerottet wurde, das Land wieder aufbauten, lernten mit dem Trauma zu leben, weiter machten und nach vorne blickten. Da sah ich dann auch eine Parallele zu meiner Großmutter, die zu den Trümmerfrauen in Deutschland gehörte, und das Land traumatisiert von Krieg und Flucht von Null wieder aufgebaut hat. Diese Kraft der Frauen hat mich fasziniert und war für mich der Anfangspunkt.

Photographs by Olaf Heine“ (Hatje Cantz Verlag, Berlin)
Schwarwel: Was macht deine Frau beruflich, weil du mal sagtest, das Thema kam über sie zu dir?
Olaf: Meine Frau Marion hat eine Kommunikations- und Werbeagentur und sie arbeitet sehr viel mit kulturellen und öffentlichen Themen. Sie macht Kommunikation im weitesten Sinn des Wortes. Deshalb wurde sie von unserem Nachbarn auch angesprochen, ob sie nicht eine Idee hätte, was das Kinderhilfswerk Öffentlichkeitswirksames machen könnte. So sind wir dann auf die Idee gekommen, ein Projekt und ein Buch zu machen. Das war der Ansatz. Zuerst wollte ich nur die Mütter fotografieren, klassisch und in schwarz-weiß. Je näher ich dann jedoch an die erste Reise kam, desto mehr habe ich mich damit auseinandergesetzt und festgestellt, dass das eigentlich totaler Quatsch ist, weil die Motive besser farbig, in der Realität und im Hier und Jetzt sein müssen. Zum anderen habe ich gemerkt, dass die Kinder für mich dazugehören. Also beschloss ich, mit allen zu reden, weil mich die Erzählungen zweier traumatisierter starker Generationen von Frauen interessierten, die sowohl in Konflikt als auch im Dialog stehen. Sie müssen ja miteinander umgehen. So kam dann die Idee, an den Nullpunkt zu gehen, die Orte, wo die Vergewaltigungen stattfanden und wo das Schicksal der Mutter eine Wende genommen und das Schicksal des Kindes seinen Anfang hat. Das hört sich jetzt erst einmal wahnsinnig an, aber ich hatte natürlich viele Informationen über die Arbeit dieser Hilfsorganisation und wusste, dass jegliche Auseinandersetzung mit dem Schicksal auch Therapie ist. Und dann habe ich gesagt, wenn es möglich ist, würde ich gern Mutter und Tochter zusammen fotografieren und schauen, was das mit den Menschen macht und was dahinter steckt. Wir haben auch Söhne fotografiert, letztendlich habe ich den Fokus aber doch auf die Frauen gelegt, weil die Töchter, als wir das Projekt zwischen 2016 und 2019 durchgeführt haben, etwa in dem gleichen Alter waren wie die Mütter damals. Wir haben das Buch zum 25. Jahrestag des Völkermords im April 2019 herausgebracht. Das war für mich dann der Punkt.

Schwarwel: Wie viele wollten nicht an dem Projekt teilnehmen und musstet ihr viel Überzeugungsarbeit leisten?
Olaf: Die Schwierigkeit war erst einmal, dass viele Menschen dort mit dem Begriff Fotobuch oder Porträt nichts anfangen können. Fotografien entstehen in Ruanda im besten Fall für Familienalben. Fotoausstellungen sind nicht in deren Horizont. Viele wussten also erst einmal gar nicht genau, was wir vorhatten. Wir wollten ja schon mit jedem Paar zumindest kurz sprechen und schauen, wie sie miteinander umgehen, das ist besonders interessant gewesen, weil die Beziehungen in der Regel nicht harmonisch sind. Die vergewaltigten Frauen mussten ja erst einmal das Trauma dieses Krieges bewältigen, mit ihrem eigenen Schicksal fertig werden und mit der Ausgrenzung umgehen lernen. Ruanda ist mittlerweile eins der fortschrittlichsten Länder in Afrika. Aus der Not heraus, weil viele Männer aus einer bestimmten Generation fehlen, ist es das Land mit der höchsten Frauenquote in Führungspositionen, auch im Parlament sitzen über die Hälfte Frauen. Das Problem ist aber, dass der Fortschrittsgedanke an den Grenzen der Hauptstadt Kigali aufhört. Frauen haben in der ruandischen Gesellschaft in den letzten 25 Jahren zwar sehr an Einfluss gewonnen, die Opfer der Vergewaltigungen und deren Kinder haben jedoch an diesem Fortschritt keinen Anteil. Sie leben ausgegrenzt. Es gibt so ein Sprichwort: Witwen bringen Pech. Sie leben mit dem Stigma von Witwen und Waisen – gerade die Töchter der Vergewaltigungsopfer, von denen jeder weiß, dass sie aus einer Vergewaltigung hervorgegangen sind. Mich hat interessiert, wie funktioniert das, wie kann eine Mutter, die beim Anblick ihrer Tochter jeden Morgen wieder an den schlimmsten Tag ihres Lebens erinnert wird, damit umgehen? Und andersrum, wie können die Töchter dieser traumatisieren Mütter, die ja gar nichts für ihr Schicksal können, mit dem Stigma umgehen, dass sie das Produkt dieses Verbrechens sind? So sind wir herangegangen.
Ich habe insgesamt vier Reisen nach Ruanda gemacht. Beim ersten Mal sind wir dahin und haben mit der Hilfsorganisation vor Ort gesprochen. Die ora Kinderhilfe ist ein kleines Berliner Kinderhilfswerk. Die haben neun oder zehn Mitarbeiter, arbeiten aber in 23 Ländern mit dort ansässigen Hilfsorganisationen zusammen. Sie unterstützen wie so ein Satellit und verteilen ihre Spenden und unterstützen verschiedene Projekte und eins davon ist dieses Thema in Ruanda. Die dortige Organisation heißt Solace Ministries und war unser Ansprechpartner vor Ort. Gegründet wurde Solace Ministries 1995 nach dem Völkermord von Jean Gakwandi. Er selbst ist Tutsi und konnte sich damals drei Monate lang im Keller eines schweizerischen Botschafterpaares verstecken. Er hat seine Eltern und Geschwister verloren, doch er und seine Frau überlebten. Aus Dankbarkeit dafür und dem Gefühl heraus, dass dieses Überleben ihn auch irgendwie verpflichtet, hat er angefangen, sich um Witwen und Waisen zu kümmern, und diese Organisation aufgebaut. Er betreut heute 6.000 Frauen im ganzen Land. Er und seine Mitarbeitenden besorgen etwa Medikamente für diejenigen, die an HIV erkrankt sind, wie auch Krankenversicherungen, sie organisieren Traumatherapien. Es ist ein christliches Hilfswerk, das viele kleine Communities betreut, von denen wir viele besucht haben. In Kigali haben sie mittlerweile ein größeres Zentrum aufbauen können. Solace kümmert sich neben Therapien für die Frauen auch um Stipendien für die Töchter, Mikrokredite und Saatgut für die Mütter, weil Ruanda ein Agrarland ist.
Eine der letzten Begegnungen, die ich für das Buch gemacht habe, war für ein Foto von einer leukämiekranken Frau mit ihrem Kind. Die Tochter erzählte, dass sie wahnsinnig gern studieren würde, aber nicht könne, weil ihre Mutter nicht nur traumatisiert, sondern auch leukämiekrank ist. Die Mutter ist jetzt gestorben. Wir haben es aber durch den Verkauf von einigen Bildern und des Buches geschafft, der Tochter ein Stipendium zukommen lassen, damit sie jetzt studieren kann.

Solace waren also mein Ansprechpartner und die mussten auch erst einmal verstehen, dass ich nicht nur drei, vier Mütter sprechen möchte, sondern ein großes Thema vorhabe. Wir haben voneinander gelernt. Ich zum Beispiel, wie wichtig eine solche christliche Organisation sein kann. Ich habe selbst an einigen ihrer Sitzungen teilgenommen, die einerseits wie Gottesdienste gestaltet sind, dann gab es aber auch verschiedene Gesprächsgruppen. Hierbei spielen die Communities eine große Rolle, denn Familie bedeutet nicht nur Blutsverwandtschaft, sondern größere soziale Gruppierungen. Und diese helfen den Leuten in den Selbsthilfegruppen. Da wird getrauert, da wird erzählt, da unterstützt man sich auch praktisch gegenseitig, etwa bei der Agrararbeit. Die Frauen konnten sich auch, wenn sie in dem Moment ein Thema hatten oder sich schlecht fühlten, für eine Art Rollenspiel melden, in denen Ängste bearbeitet werden konnten. Die Treffen endeten immer mit viel Tanz, Gesang und wahnsinnig positiv. Es war schön, dabei zu sein.
Solace meinte dann zu mir, man könne nicht alle Frauen an einen Ort holen. Doch ich wollte ohnehin gern dorthin gehen, wo sie leben und wo das passiert ist. Und dann wurde diese Anfrage in die Communities getragen. Es gab eine Frau bei Solace, die meine Ansprechpartnerin wurde – Mama Lambert. Sie wird so genannt, weil Lambert ihr einziges Kind von insgesamt sieben oder acht ist, das 1994 überlebt hat. Mama Lambert hält mittlerweile Vorträge und hat ein Buch geschrieben. Sie kümmert sich um alle diese Frauen und weiß genau, was das für Schicksale sind und wie es ihnen geht. Wir sind mit ihr und der Tochter von Jean Gakwandi zu den unterschiedlichen Communities gefahren, wo wir dann immer einen Tag geblieben sind. Jeden Tag sind wir in verschiedene Orte gefahren und haben uns mit Frauen getroffen. Ich hatte immer eine Journalistin dabei, die Fragen gestellt und die Gespräche moderiert hat. Sie hat das Vorwort für das Buch geschrieben. Wir haben dann immer Mutter und Tochter zur Seite genommen und mit ihnen gesprochen. Ich habe mich mehr darauf konzentriert, wie gehen Mutter und Tochter im Gespräch miteinander um. Was sehe ich da an Gesten, an Blicken oder sehe ich überhaupt etwas? Und das habe ich versucht in meiner Fotografie mit einzuarbeiten. Ich wollte kein Fotobuch machen, das wie ein Lexikon ist – das ist Mathilde und das ist ihr passiert, sondern ich wollte sie als die starken Frauen porträtieren, die ich in ihnen gesehen habe. Das ist mal mehr mal weniger gut geglückt. Wir sind mit den jeweiligen Pärchen dann in die Nähe der Orte gefahren, nicht genau an die Stelle, sondern zum Beispiel an den Fuß des Hügels, auf dem die Frauen drei Wochen lang in einer Hütte festgehalten und jeden Tag von einer Gruppe von Männern vergewaltigt wurden. Ich habe versucht, das, was ich zwischen den beiden gesehen habe, einfließen zu lassen, ohne dass ich inszeniert habe, sondern nur geschaut, was an dem Ort passiert. Manchmal gingen die Blicke von Mutter und Tochter in unterschiedliche Richtungen, manchmal waren sie schüchtern, manchmal haben sie weggeschaut oder sich umgedreht, manchmal gab es eine Umarmung, eine zärtliche Berührung, manchmal war da eine Eiseskälte – das sieht man auf den Bildern teilweise unglaublich deutlich.
Ich war erstaunt, wie stark die Frauen waren. Das hat auch etwas mit der Qualität der Therapie zu tun und wie oft sie sich mit ihrem Schicksal auseinandersetzen. Es ist einmal vorgekommen, dass sich eine Frau, während sie darauf gewartet hat, dass sie an der Reihe ist, die ganze Zeit übergeben hat, weil sie mit diesem Schicksal konfrontiert wurde. Wir haben ihr natürlich sofort angeboten, nach Hause zu gehen, aber sie wollte das Foto machen. An einer anderen Stelle gab es einen Fluss, der durch Kigali fließt und in dem knapp 100.000 Leichen von Kigali durch Ruanda bis ins benachbarte Uganda geflossen sind. Damals hieß es, man solle keine Lachse aus dem Viktoriasee essen, in den der Fluss mündet, weil die sich von den Leichen ernährt haben. Wir haben eine Frau fotografiert, die am Ufer des Flusses vergewaltigt wurde und als wir dort waren, habe ich gemerkt, dass irgendwas mit ihr ist, sie war irgendwie erstarrt, das sieht man auf dem Foto auch. Und ich habe dann abgebrochen und gefragt, ob es ihr gut gehe. Mama Lambert meinte, die Frau habe geglaubt, Stimmen aus dem Fluss zu hören, dabei haben am anderen Flussufer Kinder gespielt. Sie hat hinterher erzählt, die Stimmen hätten zu ihr gesagt, „trau ihnen nicht, wir kriegen euch alle“. Und ich habe versucht, sie zu trösten.
Dann gibt es ein Bild in einem gelblichen Raum, in den schräges Sonnenlicht hereinfällt. Diese Mutter hat der Tochter nie erzählt, dass sie das Kind aus einer Vergewaltigung ist. Die Tochter hat es über die Community, also durch andere erfahren, hat ihre Mutter aber auch nie darauf angesprochen. Die beiden reden nicht miteinander. Das sieht man auf dem Foto, die Mutter steht ganz starr und die Tochter sitzt auf dem Stuhl davor. Die Mutter bringt es nicht übers Herz, sie kann einfach nicht mit ihrer Tochter reden. Diese ist eine der wenigen, die studiert, Recht, und sie engagiert sich in einem Gehörlosenwerk, weil sie gern Sprachrohr für Gehörlose werden möchte, da sie mit ihrer Mutter nicht sprechen kann. So gehen die Töchter beispielsweise damit um.

Schwarwel: Was hat das Buch mit den Frauen gemacht, als sie das Endergebnis dann später gesehen haben. Weißt du etwas darüber?
Olaf: Vieles wurde bereits im Vorfeld geklärt. Wir fotografierten knapp 100 Paare und im Buch sind, glaub ich, 85. Wir haben allen Frauen immer ganz offen gefragt, ob sie mitmachen möchten. Wir haben Stichwortzettel von den Gesprächen gemacht und sie das freigeben lassen. Es gibt einige, die sagten, „ihr dürft das Foto gern in dem Buch verwenden, aber ich möchte es nicht im Internet sehen“, weil viele von ihnen immer noch in den gleichen Orten wie ihre Vergewaltiger leben und ihnen teilweise auch heute noch über den Weg laufen. Ich habe dann ein Riesenpaket mit Fotos gemacht und Jochen von der ora Kinderhilfe ist noch einmal damit runter geflogen. Von dem Besuch habe ich ein Video gesehen, in dem alle weinen und sich über die Bilder freuen.
Es gibt eine Geschichte, die erzähle ich immer gern als Beispiel. Wir waren in einer kleinen Community und haben mit einer Mutter und ihrer Tochter gesprochen. Sie wurde am Hang eines Hügels vergewaltigt. Und dort ist jetzt ein Friedhof und zwar so wie man das von Soldatenfriedhöfen kennt: einfach ein unglaublich riesiger Hang mit Gräbern. Und ich habe sie gefragt, ob ich sie dort fotografieren darf. Und dann hieß es, ja, das können wir so machen. Wir haben willkürlich ein Grab mit Jahreszahl 1994 als Hintergrund gewählt, sie da platziert und ansonsten nicht viel gemacht. Irgendwann kam ein kleiner Vogel angeflogen, der sich auf das Grab davor gesetzt hat. Am Abend bekamen wir einen Anruf im Hotel von Solace von der Tochter von Jean, die Frau hätte sich nochmal gemeldet und wäre jetzt nicht mehr glücklich damit, weil Friedhöfe Unglück brächten. Es wäre nicht gut, wenn wir das Foto verwenden würden und das haben wir natürlich respektiert. Ich habe dann aber, als Jochen von der ora Kinderhilfe nach Kigali geflogen ist, um die ganzen Fotos zu zeigen, das Bild trotzdem dazugelegt, weil ich es stark fand und nur für den Fall, dass sie es gern haben möchte. Und dann ist sie zu ihm gegangen und hat gesagt, sie möchte doch gern im Buch sein, weil sie das Foto wichtig fände. Es war ein schmaler Grat. Schon allein, dass ich mich als Weißer und als Mann mit diesem ganz schwierigen Thema befasse. Wir haben in jeder Community mit den Frauen erst einmal gebetet und erzählt, wer wir sind, wo wir herkommen, was wir machen. Ich habe von meiner Mutter und meiner Großmutter erzählt, von den Trümmerfrauen, die Deutschland nach dem Krieg wiederaufgebaut haben. Und ich habe ihnen von meiner Mutter erzählt, die mich in den 1970er Jahren allein groß gezogen hat und das auch als eine Art feministischen Kraftakt beschrieben, auch wenn meine Mutter das selbst nicht so bezeichnen würde. So habe ich mich vorgestellt und auch gesagt, dass ich selbst Vater bin. Das war die Ebene, auf der wir uns getroffen haben, das war ganz herzlich und lief viel über Blicke und Berührungen. Ich habe auch bewusst digital fotografiert, weil wir die Bilder so immer gleich zeigen konnten und ich glaube, das war ein ganz wichtiger und wesentlicher Punkt, dass sie sehen konnten, was wir da tun.

Sandra: Wie schaffen die Frauen es, das zu verarbeiten?
Olaf: Das ist ganz unterschiedlich. Um das zu begreifen, muss man sich einmal versuchen, in diesen Genozid hineinzuversetzen. Ich bin in jedes Mahnmal gegangen und in viele Kirchen. Ich habe ein Foto am Anfang des Buches gemacht, das ist ganz dunkel mit vielen hellen Lichtpunkten. Es sieht aus wie ein nächtlicher Sternenhimmel. Das sind aber tatsächlich Tausende von Einschusslöchern im Dach einer Kirche, in der 5.000 Menschen ermordet wurden. Es kam mir vor wie die Seelen, die auf uns herunterschauen. Es ist unfassbar, mit welcher Brutalität sie vorgagangen sind. Das waren 100 Tage, rund drei Monate und es waren ja teilweise Verwandte, Nachbarn, die besten Freunde, die denunziert haben. Wenn man sich die Geschichte in den Mahnmalen anschaut und vor Augen führt, ist es wirklich so, als wenn in diesen drei Monaten jegliche Menschlichkeit, jegliche Vernunft vernichtet worden war. Die Opfer wurden gejagt, in Feldern, in Sümpfen, in Häusern, in Kirchen mit den einfachsten Mitteln – Knüppeln und Macheten – umgebracht. An einer dieser Kirchen, in der sich 2.000 Leute versteckt hatten, erzählte uns eine Frau, als die Hutu-Milizen kamen, haben sie die Frauen im angrenzenden Wald in Gehege gesperrt und sind dann zwischen den Gehegen, wo sie vergewaltigt haben, und der Kirche, wo sie gemordet haben, hin- und hergelaufen. Und die Frau erzählt, dass sie die Babys an den Füßen genommen und gegen die Wand geklatscht haben. Ich glaube, das muss man erst einmal vor Augen haben, um die Tragweite verstehen zu können. Der Fall, bei dem ich nur noch mit dem Kopf geschüttelt habe, war eine Frau, die drei Wochen lang in einer Hütte festgehalten und täglich von mehreren Männergruppen vergewaltigt wurde, bis sie blutend und leblos war und von ihr abgelassen wurde, weil die Täter dachten, sie lebt nicht mehr. Sie konnte dann fliehen, versteckte sich unter einem Leichenberg und ist nachts durch Felder und Wälder gelaufen, bis sie an die Grenze von Uganda kam, wo sie in ein französisches Flüchtlingslager gekommen ist. Und genau in dem Augenblick, als sie wieder zu Kraft kam und glaubte, sie sei gerettet, wurde sie von einem französischen Soldaten vergewaltigt.
Ich bin völlig naiv an das Thema gegangen, hatte mich so noch nie damit beschäftigt. Doch um zur eigentlichen Frage zurückzukommen: Es gab nicht wenige Frauen, die mir am Anfang gesagt haben, „erst wollte ich mich und dann das Kind umbringen“. Und ich möchte nicht wissen, wie viele das auch gemacht haben. Wir haben eigentlich alles an Emotionen erfahren, gehört oder erzählt bekommen, was es gibt. Manche Frauen sehen das Kind als unschuldiges Wesen, das nichts dafür kann, weshalb sie eine Beziehung aufbauen mussten. Andere sagten, dadurch dass sie versucht haben, Liebe zu empfinden, konnten sie überhaupt erst wieder leben. Und dann gab es andere, die gesagt haben, „ich kann meine Tochter nicht lieben, nicht mir ihr sprechen“. Genauso ist es aber auch bei den Töchtern. Ich habe Töchter erlebt, die haben gesagt, „meine Mutter ist eine Heldin für mich, weil sie so eine Willensstärke und Zuversicht entwickeln kann aus so einer Geschichte“. Und dann gab es wiederum Töchter, die gesagt haben, „ich habe das schlimmste Leben, ich komme überhaupt nicht klar“.
Ich kann zur Traumabewältigung nicht so viel sagen, also wie das auf tieferer Ebene funktioniert, weil ich nur das wiedergeben kann, was mir erzählt wurde. Es ist eine sehr christliche, eine sehr ländliche und zwischenmenschliche Art, wie sich die Frauen gegenseitig helfen, das zu verarbeiten.

Schwarwel: Was hat das alles mit dir gemacht, die ganze Erfahrung?
Olaf: Das ist schwer zu sagen. Wenn ich fotografiere, bin ich eine funktionierende Maschine, ich sauge alles auf, schleppe das mit und es trifft mich dann Wochen oder Monate später. Ich glaube, ich habe im Prozess die Brutalität und die Geschichten, die mir da zu Ohren gekommen sind, genommen und ein bisschen gefiltert. Ich habe immer versucht, mich vor allem auf die Zwischenmenschlichkeit zwischen Mutter und Tochter zu konzentrieren.
Ich bin auch wahnsinnig dankbar, denn es ist mir viel deutlicher bewusst geworden, was für ein Privileg ich habe, in Deutschland in Frieden zu leben, eine gesunde Familie zu haben und zu sehen, dass die kleinen Problemchen, die man so hat, in Anbetracht solcher Schicksale noch kleiner werden. Es macht mich demütig.
Wir haben das Projekt Vorort von 2016 bis 2018 durchgeführt. Das waren die Jahre der Flüchtlingswelle. Das hat mich auch nochmal anders auf unsere Problematik hier blicken lassen. Ich habe mir unser Land angeschaut und festgestellt, dass wir oftmals gar nicht wissen, wie gut es uns eigentlich geht. Wenn man sieht, wie tief das Trauma dort sitzt, und in einem fortschrittlichen und reichen Land schaffen wir es nicht, irgendwo mal ein paar Euro für Hilfsbedürftige auszugeben oder die Türen und Grenzen für Leute zu öffnen, die vor dem Krieg davonrennen. Das ist für mich unverständlich.
Auf der letzten Reise habe ich mal irgendwo erzählt, dass ich Zivildienst gemacht habe. Eigentlich müsste man den wieder einführen, weil es jedem 19- oder 20-Jährigen gut täte, mal für ein halbes Jahr über den eigenen Tellerrand zu schauen und zu sehen, wie Menschen an anderen Orten leben. Das freiwillige soziale Jahr, das Steinmeier fordert, aber eben in Hilfsprojekten in Dritte-Welt-Ländern. Ich denke, unsere Gesellschaft würde unglaublich davon profitieren können.
Die Idee zum Buch war eigentlich, eine Begleitausstellung wandern zu lassen, aber dann kam Corona dazwischen. Wir haben sie im Museum Frieder Burda hier in Berlin ein halbes Jahr lang präsentiert. Und Anfang 2020 luden wir Jean Gakwandi, seine Tochter, Mama Lambert und noch eine andere Frau ein. Sie sind nach Deutschland gekommen und wir haben einen Infoabend veranstaltet. Und da haben sie, glaube ich, das Projekt erst so richtig verstanden. Sie standen vor den riesigen, lebensgroßen Bildern und sind wahnsinnig stolz gewesen, dass so ein entferntes Land an ihrem Schicksal teilhaben möchte. An dem Abend hat Mama Lambert vor 40, 50 Leuten über ihr Schicksal erzählt. Und das war ganz interessant, da jemand von Human Rights Watch im Publikum saß. Mama Lambert erzählte, wie ihre Kinder umgebracht wurden. Sie selbst war zweimal dem Tod sehr nah und wurde nur verschont, weil die Täter ehemalige Schüler von ihr waren. Sie war vorher Lehrerin. So konnte Mama Lambert überleben. Sie hat eine Dreiviertelstunde erzählt und alle waren sehr betroffen. Und dann kam aus dem Publikum die Frage: „Wie fühlt ihr euch denn heute?“ Und die Antwort war: „Wir fühlen uns sicher, wir fühlen uns gut, wir sind in einem sicheren Land. Es wird nicht wieder passieren.“ Und dann stand der Human-Rights-Watch-Mitarbeiter auf und sagte: „Aber euer Präsident sperrt die Journalisten weg!“. In diesem Moment habe ich mich so geschämt. Mama Lambert hat sich so geöffnet und ihre intimsten und schlimmsten Erinnerungen geteilt. Und dann kommen wir aus dem Westen daher und sagen: „Aber euer Präsident tut das und das!“ Ja, natürlich macht er das. Ich habe das auch in meinem Nachwort geschrieben, aber das tut bei diesem Projekt nichts zur Sache. Ich habe Jean und Mama Lambert danach einen langen Brief geschrieben und mich dafür entschuldigt, aber es hat etwas mit denen gemacht. Ich war unfassbar traurig, dass das so passiert ist.

Schwarwel: Meinst du das Nichterkennen von Verhältnismäßigkeit?
Olaf: Ja, das war einfach völlig unsensibel. Mein Thema war nicht der autoritäre Staat Ruanda, sondern es ging um die privaten Schicksale der vergewaltigten Frauen.
Schwarwel: Du sagtest vorhin, und da sind Sandra und ich zusammengezuckt, dass die Frauen teilweise noch mit ihren Peinigern in einem Ort leben. Kannst du das noch mal etwas genauer ausführen?
Olaf: Die Hutu-Milizen haben damals die Straßenkreuzungen abgesperrt, sogenannte Road Blocks aufgebaut, an denen die Identität überprüft wurde, ob man Hutu oder Tutsi ist. Und die Tutsis wurden direkt an Ort und Stelle umgebracht und die Frauen dann eben vergewaltigt. Es gibt ein Foto, da habe ich eine Frau vor einem See fotografiert. Sie hält mit ihrer Tochter Händchen. Ihr Mann war der erste Tote, der in diesem See landete. Am Ende waren es etwa 1.000 Tote. Sie wurde dort vergewaltigt. Heute ist sie die Community-Leiterin, weil Gott zu ihr gesprochen – das Land ist sehr christlich – und gesagt habe: „Du musst vorangehen mit Mut, Zuversicht, Kraft und Stärke.“ Und sie ist jetzt für viele andere ein Role Model. Die Täter sind Nachbarn gewesen, Freunde, teils Verwandte und nicht alle Vergewaltiger sind eingesperrt worden. Wir sind einmal an einer Baustelle vorbeigefahren, da arbeitete eine Strafkolonne, in orangen Overalls gekleidet. Und ich wollte anhalten und ein Foto machen, weil ich dachte, vielleicht ist es nicht so schlecht, wenn man ein Foto von den Tätern hat. Da hat man mir sofort Einhalt geboten und es wurde gesagt, die dürfen nicht irgendwo auftauchen. Sie werden quasi totgeschwiegen. Die Vorfälle werden auch nicht mehr angesprochen, die gehen sich aus dem Weg. Es gab, ich glaube bis 2012, die sogenannten Gacacas, Dorfgerichte, weil die Verbrechen in so einem Ausmaß stattgefunden hatten, dass nicht alle Fälle vor die Gerichte kommen konnten. Also gab es Dorfgerichte, zu denen das Dorf zusammenkam und Täter und Opfer zusammengebracht wurden. Und dann wurden Strafen dort ausgesprochen und Täter und Opfer sollten sich nach Möglichkeit aussöhnen. Danach war es vorbei und wird wie gesagt heute nicht mehr angesprochen. Die Mütter wollen eher nicht von ihrem Schicksal erzählen, weil sie Angst haben, dass die Männer da wieder drauf gestoßen werden. Man schweigt es tot. Und wenn man damit nicht klar kommt, geht man eben in diese Hilfegruppen, zu Solace oder eine der etlichen anderen Gruppen und sucht dort Hilfe.

Schwarwel: Hältst du totschweigen für sinnvoll?
Olaf: Ich versuche mir da kein Urteil zu erlauben, weil das sehr schwierig ist. Ich kann mich da nicht hineinversetzen. Es ist genauso wie, dass es die Begriffe Hutu und Tutsi nicht mehr gibt, die übrigens von den Deutschen eingeführt wurden. Ruanda war vor dem ersten Weltkrieg eine deutsche Kolonie. In Kigali im Genocide Memorial kann man Fotos sehen, wie die deutschen Soldaten die Nasen und Ohren der Bevölkerung vermessen. Weil sie sie nicht unterscheiden konnten, haben sie gesagt, wir teilen sie ein in eine wohlhabende Kaste, die mehr als zehn Kühe hat, das waren die Tutsi, und in eine ärmere Kaste, das waren die Hutus. So wurde Neid gesät. Belgien hat die Kolonie, glaube ich, im Ersten Weltkrieg übernommen und die Belgier haben das beibehalten. Mitte der 1950er Jahre wurde Ruanda in die Selbstständigkeit entlassen und seitdem gab es schon regelmäßig kleinere Genozide. Sinnvoll oder nicht – das möchte ich nicht beurteilen. Als Fotograf versuche ich grundsätzlich Dinge nicht zu bewerten. Ich kann es nachvollziehen. Es ist ein Versuch, wie die Namen Hutus und Tutsis zu streichen, und zu sagen, wir sind heute alle Ruanda. Und sie blicken in eine Zukunft und fragen sich, wie können wir unser Land nach vorne bringen. Dass das nicht in zwei Generationen geht, ist klar. Und ob das bei der Traumabewältigung hilft, weiß ich nicht.
Schwarwel: Was heißt Nachvorneschauen für euer Projekt? Wie geht es damit weiter?
Olaf: Wir haben begonnen, Gespräche mit einer Institution in New York zu führen. Ich würde mit der Ausstellung wahnsinnig gern in New York sein, weil dort die UNO sitzt und ich damit das Thema gern nochmal ansprechen würde: Wir haben eine so genannte Weltpolizei, die aber regelmäßig bei solchen Konflikten versagt. Nochmal – ich will es nicht bewerten, aber eine Diskussion anregen. Ich versuche einfach, die Ausstellung weiter zu zeigen. Ich habe keine großen Mittel wie bei anderen Kunstprojekten und es ist auch eher ein Thema, was nicht so gefällig ist wie Projekte über Architektur oder Pop- und Rockstars, die ich fotografiere. Es ist kein leicht verdauliches Projekt und das hat man an der Umsetzung auch gemerkt.
Schwarwel: Du schaffst Aufmerksamkeit mit deiner Kunst. Sicherlich gibt es auch andere Aspekte, die man unterstützen kann. Ist Solace ein Ansprechpartner, die einen weiterleiten, wenn man sich konkret engagieren will?
Olaf: Ich glaube ja, da ist jede Hilfe willkommen – finanzielle wie therapeutische. Es geht in erster Linie um einen Heilungsprozess. Die Frauen, die wir getroffen haben, sind am unteren Ende der sozialen Hierarchie. Deshalb ist es ein heilsamer Prozess für sie, sich überhaupt mitteilen zu können und gehört zu werden.
Transkription: Sandy Feldbacher
Dieses Interview wurde erstveröffentlicht im Buch „#nichtgesellschaftsfähig – Tod, Verlust, Trauer und das Leben”.

„Rwandan Daughters
Photographs by Olaf Heine“
Text(e) von Matthias Harder, Olaf Heine, Antje Stahl
Englisch, Deutsch
Hatje Cantz Verlag 2019
208 Seiten, 70 Abb., gebunden, 24,80 x 33,50 cm
ISBN 978-3-7757-4547-5