HERZ DER FINSTERNIS

von Schwarwel
„Wir leben, wie wir träumen – allein.“
Dieser Satz von Joseph Conrad begegnete mir 1986/87 zum ersten Mal als vorangestelltes Zitat des Buches „Alien – Das unheimliche Wesen aus einer fremden Welt“ von Alan Dean Foster. Seitdem hat mich dieser Satz nicht mehr losgelassen, weil er als eine These meiner Ansicht nach neben meinem Leben auch und vor allem mein Sterben und meinen Tod einschließt, denn das alles muss ich – wie alle anderen Menschen vor und nach mir – ganz allein hinkriegen.
Das Buch las ich etappenweise in einem verschneiten, scheißkalten Winter, meistens früh zwischen halb und um sieben, während es draußen noch stockfinster war und ich den Bauwagen unserer Lehrlingsbrigade für Dachdeckungsarbeiten vorzuheizen hatte. Der Bauwagen stand zwei Straßen von meinem elterlichen Wohnhaus entfernt vor einer pompösen Villa, deren Keller wir als Winterbaustelle zu entkernen und zu teeren hatten.
Doch vor halb, um acht ging zur Winterzeit bei uns gar nix los – außer der Vorarbeiter meldete sich zum Kontrollbesuch an. Dann kippten wir schon mal eine Schubkarre Schutt geräuschvoll von einer Ecke in die andere, um Aktionismus vorzutäuschen. Aber so ein Besuch war selten, also hatten wir viel Zeit zum Ausschlafen, zum Lesen und zum Wegträumen.
Alan Dean Foster ist ein Science Fiction- und Fantasy-Vielschreiber, der vor allem durch seine Romanadaptionen zu amerikanischen Filmen wie „The Black Hole“, „Krull“, „The Thing – Das Ding aus einer anderen Welt“ oder eben „Alien“ bekannt geworden war – jedenfalls im Westen, hinter dem eisernen Vorhang. Da ich als Kind des Ostens lange vor dem Mauerfall jedoch im DDR-Kinoprogramm nur sehr wenige eben jener Filme sehen konnte, die ich tatsächlich sehen w-o-l-l-t-e, hatte ich mich schon als Schüler darauf spezialisiert, mir neben Comics und Musikzeitschriften auch genau die Bücher zu Filmen zu besorgen, von denen der Staatsapparat meines Geburtslandes nicht wollte, dass ich (oder irgendwer anders) sie las. Denn diese Literatur wurde als staatszersetzend angesehen und gebrandmarkt. Was sie nach meinem Dafürhalten oftmals auch war – genau deshalb wollte ich sie ja lesen!
Neben den Zersetzungsklassikern wie George Orwells „Farm der Tiere“ und „1984“, Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ oder Kunderas „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ (über den Prager Frühling) zog mich vor allem Science Fiction-, Fantasy- und Horror-Literatur geradezu magisch an.
Neben den Zersetzungsklassikern wie George Orwells „Farm der Tiere“ und „1984“, Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ oder Kunderas „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ (über den Prager Frühling) zog mich vor allem Science Fiction-, Fantasy- und Horror-Literatur geradezu magisch an. Zwar war meine DDR- und Ostblock-SciFi-Sammlung, die natürlich mit Jules Verne begann und dann über Tuschel, Fühmann, Prokop, Simon sowie Angela und Karlheinz Steinmüller zu Stanlislaw Lem und die Strugazki-Brüder führte, schon ganz ansehnlich, doch die meisten dieser Bücher bedeuteten mir weit weniger als ihre westlichen Pedants. Denn Ost-SF war zwar schwer zu bekommen, doch sie hatte nicht diesen unausprechlichen Reiz des Verbotenen, was ein Westbuch (oder ein Comic oder ein Film) für mich immer mit sich brachte – da war zwischen den Zeilen noch mehr, etwas Dunkles, Unbekanntes, Geheimnisvolles, Gefährliches. Das kam alles aus fremden Ländern, die ich niemals mit eigenen Augen sehen würde.
Etwa ab der achten Klasse fuhr ich mit meinem Schulfreund René – manchmal auch noch mit Frank, Holger und Joey – einmal pro Woche von Stötteritz in die Innenstadt, um dort in den einschlägigen Buchhandlungen unterm Glockenspiel und im Kroch-Hochhaus die neuesten Veröffentlichungen von „Spannend erzählt“ oder „Lichtjahr“ zu ergattern. Oder Antiquariatsausgaben von „Das neue Abenteuer“ oder „Der Mann vom Anti“. Dabei blieben wir oft auch im Filmkunsthaus „Casino“ hängen, wenn dort die Universal-Klassiker „King Kong“, „Frankenstein“ oder „Das Cabinet des Dr. Caligari“ gezeigt wurden.
„Stalker“ roch nach Alkohol und Tod, „Stalker“ war eine kalte, trostlose Hölle mit einem kranken, mutierten Kind, das – Achtung, Spoiler! – schließlich zu Telekinese befähigt wird, was jedoch keine Erlösung bringt.
„Stalker“, eine Verfilmung des SF-Romans „Picknick am Wegesrand“ von Arkadi und Boris Strugazki durch Andrei Tarkowski, war eine echte Erschütterung in meiner Wahrnehmung in den Endzeiten der DDR. Noch nie vorher hatte ich im Kino einen so deprimierenden, mich zutiefst verstörenden Film gesehen. Ich kann bis heute nicht begreifen, wie die Führung der UdSSR 1979 einen solchen Film überhaupt durchwinken konnte. „Stalker“ war kein kommunistischer AgitProp, „Stalker“ war dreckig, karg, armselig, nasskalt und feucht, gefährlich und unangenehm. „Stalker“ roch nach Alkohol und Tod, „Stalker“ war eine kalte, trostlose Hölle mit einem kranken, mutierten Kind, das – Achtung, Spoiler! – schließlich zu Telekinese befähigt wird, was jedoch keine Erlösung bringt.
Um es kurz zu machen: Ich liebte diesen Film sofort. Und ich liebe ihn noch heute.
„Stalker“ visualisierte Bilder und Gefühle, die mich zuvor nur beim Lesen von Edgar Allan Poe (Ost-Sozialisierung im schicken Sammelband) oder H. P. Lovecraft (unglaublicher West-Buchfund ohne Cover unter meiner Ost-Schulbank) überkommen hatten – echter Alpdruck, echter Horror, echte Angst. Ein durch und durch echter Blick hinter den dünnen, klebrigen Schleier meiner Alltagsgedanken, direkt ins Herz der Finsternis, wo seit meiner Geburt mein Auslöschen voranschreitet, wo mein Tod unaufhaltsam wie eine Dampfwalze auf mich zu rollt. Knochen bersten, Augäpfel ploppen aus ihren Höhlen, Blut wird in meine Hände gepumpt, bis diese aufplatzen, Hautfetzen fliegen umher, Lymphflüssigkeit tritt spritzend aus. Alles ist Schmerz, alles ist Gewalt, alles ist vollkommene Zerstörung, Zerschlagung, ein Bersten, ein Kreischen, ein Dröhnen.
Es ist ein unterschwelliges Brummen, das ich tagtäglich wahrnehme. Ein schwelender Dauerton, permanent wie die kosmische Hintergrundstrahlung: Es ist die Todesangst, die an mir nagt und die ich nicht greifen und nicht benennen kann. Die ich in allen Filmen, Büchern, Comics, Geschichten und wissenschaftlichen Fachartikeln zu verstehen und zu widerlegen suche. Der Tod, so übermächtig, übermannend, alles verschlingend.
Manchmal bin ich schon in sie eingetaucht, bin untergegangen in dieser Angst, darin ersoffen wie ein Kätzchen in einem Leinensack. Sie hat mich mit sich gerissen und mein Hirn stand in Flammen. Stunden über Stunden. Ein Moment wie niemals endende Ewigkeit. Kein Entrinnen, kein Ausweg – hier ist es: das Ende, und es wird immer so bleiben. Ein Ende ohne Ende.
Erst Jahre nach der – für mich wirklich lohnenden – Lektüre von „Alien – Das unheimliche Wesen aus einer fremden Welt“ lernte ich, dass das darin vorangestellte Zitat Joseph Conrads Erzählung „Herz der Finsternis“ entnommen war, jener Erzählung, auf der auch einer meiner Allzeit-Filmfavoriten „Apocalypse Now“ von Francis Ford Coppola basiert. Mir haben sich die verschwitzte Darbietung von Marlon Brando und dessen Monologe als Colonel Kurtz, der sich am Ende der von ihm verachteten vorgeblich zivilisierten Menschenwelt ein Habitat aus Urgewalt und philosophischer Betrachtung vom Werden und Vergehen geschaffen hat, tief eingebrannt. Vieles davon trifft mich immer wieder bis ins Mark: Willards Zweifel an seinem Auftrag, den Colonel richten zu dürfen angesichts des auch von ihm selbst erlebten Wahnsinns des Krieges und des Lebens als solchem, der Handlungsstrang mit den Playmates, die aus ihrer Barbiewelt in die knallharte Realität von Tod und Verfall katapultiert werden, Robert Duvalls Figur Kilgore und dessen totale Ignoranz der augenscheinlichen Gegebenheiten …
Charlie don’t surf. This is the end, my friend.

„Alien – Das unheimliche Wesen aus einer fremden Welt“ sah ich dann doch noch vor dem Mauerfall. Auf Video. Bei einer Freundin der Mutter eines Freundes. „Weil wir doch so gerne Horrorfilme sehen.“ Sigourney Weaver als Ripley ist hier die mit der besten Überlebensstrategie. Die mit der einzigen Überlebensstrategie. Sie hat Todesangst, doch sie lässt sich nicht von ihr beherrschen. Sie akzeptiert ihre Angst, lässt sie herein, doch sie behält die Initiative. Sie handelt. Sie kratzt, sie beißt, sie schießt. Sie kämpft. Bis zum letzten Atemzug. Und darum gehts wahrscheinlich. Niemals aufgeben. Zuversichtlich bleiben. Bis das Licht ausgeht.
Neben Pulp, Trash, Schund und Schmutz saugte ich natürlich auch alles auf, was im vermeintlichen Gegensatz dazu gemeinhin als „hohe Kunst“ gelabelt ist – Otto Dix‘ Triptychon mit Predella „Der Krieg“ haute mich vom Hocker, George Grosz’ Illustrationen einer häßlichen Welt trafen mich bis ins Mark, Dürers vier apokalyptische Reiter (erstaunlicherweise Pflichtobjekt im DDR-Kunsterziehungsfach) trieben meinen eigenen Drang voran, meine Gedankenwelt irgendwie kreativ ausdrücken zu wollen, John Heartfields Collagen zu Hitler und dem Krieg lassen mich bis heute nicht los. Camus’ „Die Pest“, Remarques „Im Westen nichts Neues“, Márquez‘ „Chronik eines angekündigten Todes“, Nolls „Die Abenteuer des Werner Holt“ … Überall schwebte das Schwert des Damokles über den Protagonist:innen oder fuhr schließlich auf sie nieder – und ich spürte, wie es auch über mir schwebt, das Pferdehaar zum Zerreißen gespannt, während ich darunter zapple und strample ohne Aussicht auf ein Entkommen.
„Der Tod ist ein Ratgeber“ – das ließ Carlos Castaneda seinen Don Juan in dessen psychedelisch-magischen Mexiko sagen – auch dieser Satz hat sich mir eingebrannt.
„Der Tod ist ein Ratgeber“ – das ließ Carlos Castaneda seinen Don Juan in dessen psychedelisch-magischen Mexiko sagen – auch dieser Satz hat sich mir eingebrannt. Und ich hab ihn immer wieder als wahr befunden: Seine – nein, meine – Handlungen (und ebenso die Nichthandlungen) im Angesicht des Endgültigen und Unabwendbaren betrachten und bewerten. Sie möglicherweise ändern, wenn sie zu ändern sind. Meint: hedonistische Party bis zum Abwinken oder Verzicht üben, weil die meisten Sachen unter der Lupe und unterm Strich keinen echten Wert besitzen?
Diese Gedankenschablonen werfe ich als Automatismus bis heute auf alles, was ich sehe, fühle und erlebe. Auf alles, was ich konsumiere und produziere. Dabei spielt das Medium keine Rolle für mich – es ist ja nur das Medium. Das Transportmittel. Der Bote.
Deshalb interessieren mich auch keine Klassifizierungen in „echte Kunst“ oder ”Kindergekritzel“, „Arthouse“ oder „Popcornkino“, Beatles oder Stones … Für mich zählt nur, ob in dem, was ich da sehe, höre, fühle oder schmecke, etwas Authentisches enthalten ist, etwas, das mir etwas über das Leben (und natürlich auch und vor allem über das Sterben und den Tod) erzählen kann, denn letztlich suche ich in allem auch nach diesem einen Weg, wie ich (wie bei Castaneda) „am Adler vorbeifliegen“ oder wie ein Buddha dem ewigen Kreislauf aus Entstehen und Vergehen entkommen kann.
Dabei ist für mich die Frage völlig müßig, ob es zuerst meine klinische Depression gab oder meine Faszination für Tod, Verlust, Sterben und ganz allgemein „das Morbide“. Beides existiert schon in meinen frühesten Kindheitserinnerungen.
Dabei ist für mich die Frage völlig müßig, ob es zuerst meine klinische Depression gab oder meine Faszination für Tod, Verlust, Sterben und ganz allgemein „das Morbide“. Beides existiert schon in meinen frühesten Kindheitserinnerungen. Die Digedags und Abrafaxe waren irgendwie ganz okay, aber gegen die „Gespenstergeschichten“ des Bastei-Verlages mit Werwölfen, Ghulen und furchteinflößenden Lichtern in nächtlichen Mooren hatten sie bei mir keine Chance. Und sobald es draußen nach Regen roch, überkam mich eine Schwermut, die es mir leichter machte, auch im Amselpark oder an den Gletschersteinen furchteinflößende Lichter wahrzunehmen.
Die klinische Depression wurde erst in meinen Mittdreißigern diagnostiziert – bis dahin hatte ich größte Schwierigkeiten, meine eigenen Gedanken und Gefühle angesichts angstmachender, niederdrückender oder irgendwie schlimmer Ereignisse, Geschichten oder Erlebnisse mit der Gedanken- und Gefühlswelt meiner Umwelt abzugleichen. Es dauerte sehr lange, bis ich begriff, dass jede und jeder anders tickt und anders auf Reize reagiert – manche sensibler als ich, manche weniger bis gar nicht. Und dass das okay ist.
So richtig gezündet hats bei mir tatsächlich erst eine Weile nach der Diagnose. Da erschien mir sehr viel Erlebtes und Gelesenes in einem ganz anderen Licht und ich sah für mich eine neue Möglichkeit, mit meinen Arbeiten und „künstlerischen Dienstleistungen“ etwas auszudrücken, was da raus wollte.
Obwohl. Das stimmt eigentlich nicht. Diese Möglichkeit habe ich nicht wirklich gesehen, sondern erst jetzt, wenn ich es niederschreibe, ist mir klar, dass sich diese Möglichkeit erst durch ein Bewusstwerden meiner eigenen Scheiße auftat und ich diese Möglichkeit völlig unbewusst wahrgenommen habe – davor habe ich ewig mit mir gerungen, um eigene Arbeiten (Comics, Geschichten, Bilder, Illustrationen und Wasweißichnoch) irgendwie zu „entäußern“, weil ich haderte und nicht wusste, was genau ich da eigentlich erzählen will. Ich orientierte mich einfach an dem, was ich liebte zu lesen, zu sehen und zu hören. Mehr als ein Abklatsch oder maximal eine ziemlich okaye Kopie kann dabei natürlich nicht entstehen. Jedenfalls in meinen Augen.
Summa summarum könnte ich jetzt sagen, dass ich die erste Hälfte meines Lebens vor allem ins Herz der Finsternis anderer Leute geschaut habe – in der zweiten Hälfte schaue ich in meins.
Ja, der Tod ist immer noch allgegenwärtig, der Gedanke an das Sterben versetzt mich zuweilen nach wie vor in panische Angstzustände und ich suhle mich weiterhin in meiner Hypochondrie, wenn es um Infektionskrankheiten, Hirnaneurysmen oder Borreliose geht.
Und es ist in Ordnung. Ja, der Tod ist immer noch allgegenwärtig, der Gedanke an das Sterben versetzt mich zuweilen nach wie vor in panische Angstzustände und ich suhle mich weiterhin in meiner Hypochondrie, wenn es um Infektionskrankheiten, Hirnaneurysmen oder Borreliose geht. Trotzdem ist es irgendwie anders als vor meiner Therapie. Ich kann es besser ordnen, besser einordnen. Trocken zu werden, hat mir dabei mit Sicherheit auch geholfen.
Das hat mir jedoch nicht meine Liebe, Faszination und Neugier zu Geschichten über den Tod, das Grauen, das Sterben genommen, weil ich diese wichtig für uns finde. Und ich weiß für mich nach wie vor:
„Wir leben, wie wir träumen – allein.“
Dieser Beitrag wurde erstveröffentlicht im Buch „#nichtgesellschaftsfähig – Tod, Verlust, Trauer und das Leben”.

für Endlichkeitsmagazin drunter+drüber #13 „Angst“