GANZ SCHÖN BESCHISSEN

von Vic Vais

Ich habe die Arbeit an meinem Beitrag ziemlich lange vor mir hergeschoben.

Warum? Weil es zu dem Thema viel zu sagen gibt oder gäbe … Weil mich die Komplexität solcher Themen, hinter denen letztlich immer die GANZ GANZ großen Fragen hervorkriechen, erschlägt, überfordert … und manchmal verstummen lässt. (Am Ende gehts doch irgendwie um alles: um Leben und Tod, um Privilegien und Macht, um Einschluss und Ausgrenzung, um Körper und Verstand, um Natur und Kultur, um richtig und falsch. Kurz: um Gedeih und Verderb der fucking Menschheit …) Weil mich – wie üblich – Selbstzweifel und Unzulänglichkeitsgefühle plagen. Und natürlich ist das Aufschieben solcher Sachen nicht zuletzt auch ein Symptom dessen, worüber wir hier reden bzw. schreiben, worüber wir alle hier kollektiv nachdenken … worüber ihr hier lest. Quod erat demonstrandum sozusagen.

Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Wie ich beschreiben, was ich erklären, wie ich nachzeichnen, wie ich verstanden werden, was ich preisgeben will, soll und muss. Ich habe außerdem auch lange nicht mehr über mich selbst geschrieben … oder von mir. War zu viel mit den großen Fragen und dem Weltgeschehen beschäftigt. Es ist Juni 2020. Es ist die Zeit der COVID-19-Pandemie, des Klimawandels und der Verschwörungstheorien. Es ist die Zeit von George Floyds Ermordung durch einen Cop, der #blacklivesmatter-Demonstrationen und Donald Trumps Präsidentschaft. Es ist die Zeit vieler Themen, die ich gar nicht auf dem Schirm habe, weil Medien und Diskurse dominiert werden von privilegierten Milieus, in denen andere Themen – zum Beispiel der Fabrikarbeiter:innen in Bangladesh, unterdrückten Minderheiten in Burma oder indigener Volksgruppen in fast allen Teilen der Welt – nicht oder nur ausnahmsweise vorkommen. Es ist irgendwie nicht die Zeit für Nabelschau, sagt irgendwas in mir. Und andererseits liegt sie vielleicht selten näher als jetzt, da Lockdown und Kontaktbeschränkungen uns zwangsläufig radikal auf uns selbst zurückwerfen.

Ich habe keine Lust auf einen weiteren „Was die Krise mit mir macht“-Text. Ich empfinde mich als zu privilegiert dafür. Auch als Frau. Auch als Mutter. Auch als chronisch Kranke. Auch als nicht dem normativen Fitnessideal entsprechend. (Nicht so privilegiert wie ein reicher, gesunder, mittelalter, weißer Mann selbstverständlich. #destroypatriarchy und so. Aber dennoch: verdammt privilegiert.) Manchmal schäme ich mich deshalb, wenn ich nicht klarkomme. Manchmal schäme ich mich für meine Struggles. Für meine typisch westlich-weiße Ich-Bezogenheit.

Wovon kann und soll ich also erzählen? 

Von meinem Lampenfieber vielleicht, was mich begleitet, seit ich mit acht im Kinderchor und danach zehn Jahre in einer Band gesungen habe? Von den ersten Panikattacken, der Selbstverletzung und dem Selbsthass im Teenie-Alter? Von der erlösenden Wirkung des Rauschs? Vom emotionalen Kater, wenn die Party over ist? Von der phasenweise Unfähigkeit aufzustehen, den niederschmetternden Sinnlosigkeitsgefühlen, den Albträumen oder den unkontrollierbaren Gefühlsaus- und Nervenzusammenbrüchen?

Das alles sind Dinge, mit denen ihr wahrscheinlich größtenteils bestens (oder zumindest irgendwie mehr oder weniger) vertraut seid. Vielleicht erzähl ich deshalb von Erfahrungen, die ihr vielleicht nicht so auf dem Schirm habt. 

Okay. Let‘s try this.

Meine psychischen Probleme, die sich Stück für Stück von einem kontinuierlichen Unwohlsein über Angstzustände bis zu einer manifesten Sozialphobie entwickelt haben, hängen eng mit einem Thema zusammen, das gesellschaftlich noch mehr tabuisiert ist als Depressionen: Es geht um Ausscheidungen. Und zwar nicht die, die noch halbwegs vertretbar sind. Es geht ums Kacken. Es geht um Dauerdurchfälle, um Darmblutungen, um Krämpfe. Es geht um imperativen Stuhldrang und um Inkontinenz. Es geht darum, faktisch nicht mehr gesellschaftsfähig zu sein … und was das mit einem macht. Fertig und „verrückt“ nämlich. Das ist ein wesentlicher und zugleich unsichtbarer und vor allem meist unbesprechbarer Teil meiner Geschichte. Das haut man nicht mal eben beim ersten Date raus. Das ist auch kein Thema für den Smalltalk in der Küche bei der Hausparty. Eigentlich ist es überhaupt kein angemessenes Thema, niemals. Deshalb fällt es mir besonders schwer, darüber zu schreiben … und ist wahrscheinlich gerade deshalb besonders wichtig.

Mit etwa 18 begannen meine Darmprobleme. Das heißt konkret: 20, 30, manchmal 40 Mal am Tag schmerzhafte Durchfälle. Ohne ersichtlichen Grund. Zunächst dachte ich, ich habe eine langwierige Magen-Darm-Grippe. Wer schon einmal eine hatte, dürfte wissen, wie gesellschaftsfähig man in diesem Zustand ist: gar nicht nämlich. Wer das hat, bleibt zuhause. Das Problem: Es hörte nicht auf. Nicht nach einer Woche. Nicht nach einem Monat. Nicht nach einem halben Jahr. Krämpfe. Blutungen. Schmerzen. Durchfall. Immer. (Und Ärzte, die einem sagen, man solle doch mal ein bisschen progressive Muskelrelaxion machen oder auf die Ernährung achten … Aber das ist ein anderes Thema.) Ohne Doping ging bald gar nichts mehr. Loperamid. Schmerzmittel. Kortisontabletten. So viel zur körperlichen Seite. 

Wie soll ich treffend beschreiben, was es bedeutet, etwas, was in unserer Gesellschaft von jedem erwachsenen Menschen selbstverständlich erwartet wird und dazu noch mit Peinlichkeit und Scham besetzt ist, plötzlich nicht mehr unter Kontrolle zu haben? Wie es ist, ständig Schiss (haha!) zu haben, es nicht rechtzeitig aufs Klo zu schaffen? Was es bedeutet, wegen einem Mangel an öffentlichen Toiletten – Es gibt wirklich viel zu wenig! Achtet mal drauf! – in Läden intime Details vor Angestellen ausbreiten und sie anflehen zu müssen, um kurz das Mitarbeiter:innen-WC nutzen zu dürfen. Wie es sich anfühlt, wenn einem das wieder und wieder verwehrt wird. Wie es ist, mit Anfang 20 deshalb wieder Windeln zu tragen. Wie es ist, wenn der Körper nicht mit sich verhandeln lässt. Wie jedes Stückchen Sicherheits- und Wohlgefühl und jedes Selbstvertrauen nach und nach verschwindet. Wie sich der Zwang anfühlt, jeden Park, jeden Straßenzug, jede Wohnung von Freunden, jeden verdammten Termin, jede soziale Situation, panisch hinsichtlich der Klo-Situation abzuscannen. Was es mit einem macht, verurteilt, ausgelacht und alles in allem nicht so richtig verstanden zu werden … Mich machte das ziemlich lange ziemlich kaputt. Und ich fühlte mich endlos allein.

Jede Situation, die meine Präsenz erforderte, machte mich fertig. Ich kann mich an diese Zeit nicht ohne unangenehme Gefühle erinnern. Ich fühlte mich immer – immer immer immer – unwohl: Herzrasen, zittrig-schweißige Hände, Schwindelattacken. Ich bekam Panikattacken beim Einkaufen … auf der Straße … in der Straßenbahn … im Wartezimmer beim Arzt … auf dem Zahnarztstuhl … im Bandbus … und natürlich vor Auftritten, Interviews und Videodrehs. Jedes Mal wollte ich wegrennen. Überhaupt wollte ich einfach weg sein. Ich verließ immer weniger und irgendwann einfach gar nicht mehr das Haus. Es war einfach zu anstrengend geworden. Das Rausgehen im Speziellen … und (Über-)Leben im Allgemeinen. 

Nach geraumer Zeit (und einem endlosen Ärzte- und Untersuchungsmarathon) bekam ich schließlich eine Diagnose: Chronisch-entzündliche Darmerkrankung (CED) – Morbus Chrohn. Eine Autoimmunerkrankung, die zum jetzigen Zeitpunkt so behandelbar ist, dass man halbwegs damit klarkommt. Heilbar ist sie nicht. Eine CED könnt ihr euch ein bisschen vorstellen wie eine schlimme Neurodermitis – nur eben im Darm. Mein Darm sah innen genauso aus wie die Haut von Allergiker:innen außen: blutig. Rissig. Kaputt. Damit einher ging zum Beispiel ein schwerer Nährstoffmangel, der unter anderem extreme Erschöpfungszustände verursacht. (Fast am absurdesten fand ich übrigens die vielen Komplimente, die ich zu der Zeit von allen Seiten bekam, weil ich „so schön schlank“ war. Fickt euch, ehrlich! Ich konnte mich kaum auf den Beinen halten, aber Hauptsache, ich bin dünn! #fucklookism, echt ey!)

Vielleicht kennt ihr den paradoxen Effekt, wenn euch eine Ärztin erzählt, dass ihr eine unheilbare Krankheit habt und euch trotzdem vorrangig ein Gefühl durchströmt: Erleichterung. Weil das Ding endlich einen Namen hat. Weil man endlich eine Entschuldigung, eine Erklärung, eine Rechtfertigung dafür hat, nicht einfach weitermachen, nicht funktionieren zu können – vor den anderen, vielleicht aber am meisten vor sich selbst. Eine Diagnose kann manchmal eine Rettung sein. Sie gibt einem ein Stück Handlungsspielraum zurück. Es gibt Therapien. Es ist googlebar! Es gibt andere Betroffene. Es gibt Internetforen. Und Selbsthilfegruppen. Der Austausch mit anderen, die dasselbe erlebt haben war eine riesige – wenn nicht sogar die – Hilfe für mich. Es war erlösend. Mit einer ebenfalls CED-Kranken über die Absurditäten lachen, die mit dem scheiß Dauerdurchfall einhergehen, war so befreiend, dass ich danach zwei Stunden geheult habe – vor Glück. (Auf dem Klo zwar, aber hey! Es ging aufwärts!) 

Dann wurde ich schwanger. Das ist jetzt etwa zehn Jahre her. Bevor dieses Kind auf die Welt kommen sollte, wollte ich meinen Scheiß – oder besser gesagt: mich – in den Griff kriegen. Ich habe wie im Wahn gestöbert, gegraben, hinterfragt, untersucht, analysiert, mich zerfleischt und durchleuchtet. Ich wollte nicht mehr so sein, wollte anders – jemand anderes – werden. Eine ohne Hyper-Sensibilität bezüglich der Erwartungen anderer Leute zum Beispiel. Eine, der die Meinung anderer Menschen am Arsch vorbeigeht. Eine, die nicht (oder zumindest weniger) verkopft ist. Eine, die mit sich selbst zufrieden ist. Eine ohne Angst. Irgendwie … normaler eben.

Mein Arzt verschrieb mir Psychotherapiestunden. Diagnose: „Anpassungsstörung“. Seitdem ist einiges passiert. Mit meiner Therapeutin übte ich unter anderem Spaziergänge und Einkaufen. Immer wieder: Selbst-Überwindung. Nicht wegrennen. Konfrontation. Ich entschied mich zunehmend für die Flucht nach vorn und erzählte Menschen von meiner Krankheit und den damit verbundenen Problemen, Einschränkungen und Ängsten. Heute stelle ich beim Einkaufen oder Spazierengehen manchmal plötzlich fest, dass ich an manchen Tagen nicht einmal merke, dass ich gerade draußen bin, während mich das früher an den Rand eines Nervenzusammenbruchs bringen konnte. Ich bin – mit Hilfe von Medikamenten – in Remission, also was den Bauch angeht weitgehend schmerzfrei. 

Die Ängste aber, die sind nicht weg. Im Wartezimmer beim Arzt habe ich noch immer Fluchtreflexe. Ich halte mich nach wie vor nicht gern an Orten mit „ungünstiger Klosituation“ auf. In Stuhlreihen setze ich mich immer ganz an den Rand. Ich merke immer noch deutlich die erdrückende Wirkung der Normalitätserwartungen, wenn ich nicht weg – fliehen – oder mich in der Masse halbwegs unsichtbar machen kann. Und manchmal drücke ich mich, nach wie vor. My home is still my castle. Hier fühle ich mich am sichersten. 

Das nachhaltigste Problem für Panikpatient:innen ist vermutlich die Angst vor der Angst, denn daraus resultiert ein Vermeidungsverhalten, dass sich potenziell imperialistisch ausbreiten kann. Ich weiß, wie es ist, wenn es komplett die Kontrolle übernimmt. Und ich weiß, dass ich das nicht wieder will. Ich muss aber immer noch aufpassen … und werde es wahrscheinlich immer müssen. Es ist wie mit diesem Kreisel in dem Film „Inception“: Ein Gedanke, der einmal in deinen Kopf gepflanzt ist, bleibt da kleben, setzt sich fest – und treibt zuweilen wilde Blüten.

Ich will damit sagen: Viele Dinge, die wir als normal und selbstverständlich erachten, die wir von anderen erwarten und die für unser halbwegs friedliches Zusammenleben vermutlich auch nötig sind, können andererseits ziemlich viel Leid verursachen. Es ist gut, das auf dem Schirm zu haben. Was für euch easy und keine große Sache ist, kann für andere Menschen eine riesige Hürde sein. Was machen wir nun damit? Das frag ich mich seit Jahren.

Können wir auf die Unterscheidung „normal“/„unnormal“ verzichten? Manchmal wünsche ich es mir wirklich. Aber ich bin mir nicht sicher. Das ist die Komplexität, die ich eingangs erwähnt habe. Wer „nicht richtig tickt“, aus irgendwelchen Gründen nicht funktioniert, leidet vor allem auch an Schuldgefühlen und Selbstzweifeln. Denn – und das ist in diesem Buch schon an vielen Stellen angeklungen – es wird vermittelt, das Problem sei die einzelne Person. Die Problemfälle müssten sich eben mehr anstrengen, denn sie „müssen nur wollen, müssen nur wollen, müssen nur wollen …“

Mit hoher Wahrscheinlichkeit hängt das mit nicht mehr und nicht weniger als der Konstruktion eines (für sich) selbst verantwortlichen Individuums zusammen, das alles – sowohl in sich drin als auch um sich herum – kontrollieren und steuern kann. Das anzunehmen, ist auch irgendwie sinnvoll – und vielleicht sogar nötig. (Ein Rechtssystem zum Beispiel ohne die Idee für ihr Handeln weitgehend selbst verantwortlicher Menschen könnte ehrlich gesagt eine ziemlich schwierige Angelegenheit sein.) Allerdings ist diese Nummer alles andere als nebenwirkungsfrei. Für die Idee eines zur absoluten Selbstkontrolle fähigen Subjekts, an die wir mehr oder weniger alle glauben, die alle gesellschaftlichen Instanzen durchzieht und von der unzählige aktuelle Psycho-Ratgeber geradezu triefen, zahlen wir einen ziemlich hohen Preis. In einer sozialen Welt, die darauf ausgelegt ist, dass die Menschen, die sich in ihr bewegen, sich selbst und ihre „Probleme“ gefälligst in den Griff kriegen, haben die „Dysfunktionalen“ ein ziemlich großes Problem. 

Das sind Effekte jahrhundertealter Diskurse … Deshalb ist es auch so schwer, daran nachhaltig etwas zu verändern. Denn darin stecken Grundsatzfragen wie zum Beispiel: Wie sehr haben wir uns selbst, unser Handeln, unser Sein, unser Denken und unsere Struggles tatsächlich im Griff? Sind wir Chef:in im eigenen Haus? Und wenn nicht wir, wer oder was dann? Inwiefern sind wir dafür verantwortlich, wenn wir nicht „richtig“ oder austicken und nicht funktionieren? Was macht diese ganze Selbstoptimierungsnummer mit uns? Wie können wir Gesellschaften so beeinflussen, dass es irgendwie besser wird? 

Beantworten kann ich die Fragen nicht. Cliffhanger, ha? Aber – wie Michael Ende so schön sagte: Das ist auch „eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.“ Diskurse zu beeinflussen und Tabus zu brechen, indem Nebenwirkungen sichtbar gemacht werden, ist mit Sicherheit ein guter Anfang.

Dieser Text wurde erstveröffentlicht im Buch „Nicht gesellschaftsfähig – Alltag mit psychischen Belastungen“.