„DIE MUSIK HAT MIR DEFINITIV GEHOLFEN“
Interview mit Lena Stoehrfaktor
von Katja Röckel

Lena Stoehrfaktor, Rapperin aus Berlin, ist seit 2003 im Deutschrap-Undergroud unterwegs. Zunächst als Crew-Mitglied von „Conexion Musical“, mittlerweile kann sie auf drei Solo-Alben und mehrere Kollaborationen zurückblicken. Ihre Texte sind aus dem Leben gegriffen sowie system- und gesellschaftskritisch, und auch im Rahmen der Musikindustrie habe sie sich eigene Strukturen geschaffen, mit denen, die ihre Musik vertreibt und ihre Bookings macht. Im Interview mit Katja Röckel erzählt sie u. a. von den biografischen Anfängen dieses „Stoehrfaktor-Styles“.
Katja: Danke Lena, dass ich heute mit dir über #nichtgesellschaftsfähig reden darf. Wir wollen über das Thema psychische Belastungen im Alltag sprechen. Inwieweit hat das etwas mit dir zu tun?
Lena Stoehrfaktor: Extrem viel, weil ich mich schon lange Zeit vielen psychischen Belastungen ausgesetzt fühle und mich das im Alltag beeinträchtigt. Ich muss aber auch sagen, dass es mir auf der anderen Seite etwas gibt. Es ist ein großer Teil von mir. Ich versuche, immer besser damit umzugehen. Dabei lerne ich mich selbst immer besser kennen wie auch meine Störungen und all ihre Begleiterscheinungen. Das alles versuche ich, in meine Person zu integrieren und daraus etwas zu ziehen und es auch in einen gesellschaftlichen Zusammenhang zu setzen.
Katja: Kannst du genau sagen, was das ist?
Lena Stoehrfaktor: Ich war ein ADHS-Kind. Schon in Schule und Kindergarten kam ich nicht mit. Ich war immer anders als die anderen und das hat sich dann in der Grundschule mit Fünfen und Sechsen auf dem Zeugnis bemerkbar gemacht. Ich habe oft suggeriert bekommen, ich wäre dumm, und dachte das auch eine Zeit lang. Ich habe einfach gespürt, dass irgendetwas anders ist und das ist im Laufe der Jahre immer noch da, ich habe nur besser gelernt, damit umzugehen. Dazu kamen noch andere Belastungen wie Depressionen, psychosomatische Erkrankungen wie extrem körperlich Schmerzen und Anspannungen, sogar eine leicht bipolare Störung. Ich habe meine Phasen von depressiv bis extrem euphorisch – innerhalb von einem Tag kann es mehrere Kurven geben. Ich war nie ein Mensch, der die innere Mitte gefunden hat.
Katja: Wenn das schon so früh losging, wie wurde in deinem Umfeld damit umgegangen?
Lena Stoehrfaktor: Ich komme aus einem sehr Oldschool-Elternhaus. In der Generation meiner Eltern ist es verpönt, eine Psychotherapie zu machen. Das bedeutet, du bist krank und meine Eltern waren sehr leistungsorientiert und sind nicht gut damit umgegangen. Die haben sich natürlich Sorgen gemacht, aber anstatt zu handeln und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen, haben sie die falschen gezogen und mir suggeriert, ich hätte ein Problem. Sie haben mich allein zu Therapien geschickt, es aber nicht in den Kontext gesetzt. Sie haben bis zuletzt versucht, mich zurechtzubiegen, dass ich doch reinpasse, anstatt zu sagen, sie kommt in diesem Schulsystem nicht klar, wir müssen uns etwas überlegen, was ihr mehr Selbstbewusstsein gibt, vielleicht eine andere Form von Schule.
Katja: Ab wann gab es etwas, das dir geholfen hat, und dir klarer war, dass nicht du allein das Problem bist?
Lena Stoehrfaktor: Als ich Leute kennengelernt habe, die das System an sich kritisiert haben. Ich bin in dem Glauben aufgewachsen, dass Erwachsene immer Recht haben. Als ich dann angefangen habe, diese Gesellschaft, das Schulsystem und den Kapitalismus zu hinterfragen, ist mir aufgefallen, dass es auch möglich ist, den Fehler nicht bei sich selbst zu suchen, sondern im System. Und ab da wurde mir immer klarer, dass meine Belastungen im Kontext gesehen werden müssen.
Katja: Ich finde es ziemlich krass, dass du in Kindheit und Jugend keine richtige Hilfe bekommen hast. Das, was dir als Therapie oder Idee angeboten wurde, half ja nicht. Hast du dann die Schule abgebrochen oder wie ging es weiter?
Lena Stoehrfaktor: Ich bin immer zur Therapie gerannt, später fingen meine Eltern an, mit mir zu Intelligenztests zu gehen, was mich natürlich noch komplexbehafteter gemacht hat. Ich musste mehrmals die Schule wechseln, hab gerade so meinen Realschulabschluss geschafft und später den zweiten Bildungsweg genommen und versucht, mir auf dem Weg irgendeinen Halt für die Zukunft zu sichern.
Katja: Wie offen gehst du mit dem Thema um?
Lena Stoehrfaktor: Ich bin schon immer offen damit umgegangen. Obwohl, es gab auch eine Zeit, da war es mir peinlich. Bei manchen Leuten ist es mir überhaupt nicht unangenehm, aber es gibt Menschen, da fühle ich mich minderwertig, weil ich weiß, dass die ein ganz anderes Selbstbewusstsein mitbekommen haben und dass sie das auch wissen. Sie kennen die Vorzeichen im System und ordnen dich ein. Wenn ich auf solche Leute treffe, bei denen ich das Gefühl habe, die klassifizieren extrem, verliere ich ein bisschen die Kontrolle und versuche, sie anzugreifen in ihrem Selbstverständnis. Das ist dann eine Dynamik.
Katja: Also Angriff als Verteidigung.
Lena Stoehrfaktor: Genau. Aber auch als politischer Akt: Wenn ich merke, dass Menschen eine selbstverständliche Laufbahn genommen haben, es ziemlich einfach hatten und dann aber mit Arroganz über andere Menschen sprechen und urteilen, obwohl sie nicht wissen, wovon sie reden, werde ich extrem sauer. Denn Selbstbewusstsein bildet sich krass unterschiedlich. Bei manchen gab es immer das Vertrauen „Du machst das schon.“ und bei manchen wurde vermittelt „Du bist nichts“. Das sind einfach extrem ungerechte Vorzeichen.
Katja: Gab es trotzdem einen Punkt, an dem du einen Weg gefunden hast, mit deinen Belastungen umzugehen oder war es ein Prozess? Wenn man deine Musik hört, merkt man, dass du in den letzten Jahren andere Gedanken für verschiedene Themen entwickelt hast.
Lena Stoehrfaktor: Die Musik hat mir definitiv geholfen. Durch das Rappen habe ich das erste Mal das Gefühl bekommen, dass ich etwas kann. Das hatte ich vorher nur total selten. Ich habe gemerkt, es gibt etwas, da kann ich persönliche Dinge thematisieren und Leute inspirieren, auch über sich zu sprechen, denn sie haben ähnliche Gedanken und finden sich in meinen Texten wieder. Das habe ich als extrem befreiend empfunden. Mittlerweile ist das ja mein Beruf. Das heißt, ich kann die Belastungen thematisieren und es gibt sogar Leute, die sich das reinziehen und nicht sagen: „Was heult die denn da rum? Die hat sich doch im Leben nicht genug angestrengt! Warum gibt sie dem System die Schuld?“ Also dieses neoliberale Ding – jeder ist für sich selbst verantwortlich. Nein, es gibt viele, die sogar dankbar dafür sind, dass ich meine Geschichte teile, und das würdigen.
Katja: Wie erlebst du generell den Umgang mit psychischen Belastungen in der Gesellschaft?
Lena Stoehrfaktor: Es kommt krass drauf an, in welchem Bereich das ist. In manchen Gesellschaftsschichten wird das verpönt oder als komisch angesehen. Als Künstler:in ist das ja sogar manchmal verkaufsfördernd. Sogar Suizidgedanken kannst du vermarkten, das ist ja ein Attribut von Künstler:insein. Es hat sich in den Jahren aber auch gewandelt. In der Generation meiner Eltern war das extrem tabuisiert und vor 20 Jahren hat man auch noch nicht so offen darüber gesprochen. Ich glaube allerdings auch, durch den Individualismus im Kapitalismus sind Alleinstellungsmerkmale irgendwann interessant geworden und psychische Störungen gehören ja auch dazu.

Katja: Muss das Thema noch mehr entstigmatisiert werden?
Lena Stoehrfaktor: Wenn jemand darüber spricht, gibt es schon viele Leute, die daran Anteil nehmen. Zum Beispiel wenn einer sagt: „Ich war depressiv und habe mich ein Jahr lang nicht aus dem Haus getraut“, dann gibt es viele, die sagen: „Toll, dass du offen darüber redest.“ Aber wenn jemand mal die Fassung verliert, also den Ablauf stört, dann ist das eher problematisch. Es wird gewürdigt, wenn du es hinter dir hast oder die Kontrolle wiederhast, aber wenn du in einer schwierigen Situation mal ausrastest – ich denke da zum Beispiel an Talkrunden über Hip-Hop, die immer sehr gemäßigt sind –, wird einem das nicht zugestanden. Das ist dann allen unangenehm, dabei sind das manchmal die emotional wertvollen Sachen, wenn jemand sich wirklich zeigt. Also es gibt schon einen Trend zur Entstigmatisierung, aber es wird trotzdem eine Form erwartet, die ok ist und eine andere ist es halt nicht.
Katja: Was brauchst du, um damit leben zu können?
Lena Stoehrfaktor: Ich habe mehrere Therapien gemacht, war auch mal in einer Schmerzklinik wegen psychosomatischer Schmerzen. Ich habe eine Zeit lang Ritalin genommen. Alles hat mal mehr, mal weniger geholfen, am besten ist es natürlich, Dinge in den Alltag zu integrieren. Stress ist definitiv ein extremer Killer. Ich mache mir selbst oft Stress, bin reizüberflutet. Ich verbringe oft Tage mit Sortieren. Und ich merke einfach, ich habe irgendwo ein Defizit, weil ich sehe, dass andere das alles teilweise nicht brauchen. Wichtig ist, sich selbst den Raum zu geben. Du kannst Therapie machen, du kannst Tabletten nehmen, aber irgendwo musst du dir auch den Raum geben, andere Sachen zu machen wie Sport, Musik, Gespräche mit Freund:innen und sich politisch weiterbilden, um den Kontext zu verstehen, damit man nicht denkt, ich bin hier die Komische. Oft ist es ja so, dass man sich komisch fühlt, aber wenn man mit jemanden drüber spricht, geht es dem genauso. Und dann fühlst du dich nicht mehr so und denkst, krass, vielleicht ist das auch völlig normal! Das ist der Punkt. Sich den Raum nehmen für Gespräche und sich selbst, um zu gucken, wie es gehen kann – im Berufsleben ist das natürlich kompliziert. Und gerade im Musikbusiness sind Minderwertigkeitsgefühle extrem vorprogrammiert wie auch die narzisstische Störung. Da ist wichtig zu gucken, inwieweit tut mir das gut und inwieweit nicht.
Katja: Wie gehen deine Familie und dein Freundeskreis heute damit um?
Lena Stoehrfaktor: Ich habe mir Freund:innen gesucht, die alle sehr unterstützend sind. Manchmal gehe ich denen auch auf die Nerven. Ich merke, dass ich mein Umfeld mit der fehlenden Übersicht herausfordere, aber es weiß, meine positiven Seiten zu schätzen und sieht das auch im Kontext.
Mein Vater hat es mittlerweile gecheckt und sieht ein, dass mich meine Eltern damals von der Schule hätten nehmen sollen. Er hat selbst ADHS, was er aber erst ganz spät herausgefunden hat. Daraufhin hat er alles nochmal überdacht, das geht jetzt aber nicht so richtig in sein Handeln über, was natürlich in einem Eltern-Kind-Verhältnis auch nicht einfach ist. Trotzdem sind meine Eltern für mich da. Sie haben auch alles, was sie gemacht haben, nicht böse gemeint.
Katja: Ist das aber etwas, was du bedauerst: „Wenn da früher mehr passiert wäre, hätte ich ein anderes Leben haben können“?
Lena Stoehrfaktor: Teilweise. Wenn ich heute gegen Wände laufe, weiß ich, dass der Ursprung in der Kindheit liegt. Und ich weiß ganz genau, wenn ich gewisse Sachen, die immer wiederkehren, betrachte, dass das meine Eltern voll verkackt haben. Andererseits ist es so, wie es ist, und ich bin froh für das, was ich habe. Ändern kann ich es sowieso nicht. Ich glaube, zur Emanzipation des Erwachsenwerdens gehört, sich mit der Vergangenheit auszusöhnen – keine Vorwürfe machen, sondern das, was war, akzeptieren und darüber reden. Das heißt nicht, dass es immer umsetzbar ist.
Ich arbeite ja mit Jugendlichen. In ihnen sehe ich auch mich in dem Alter und versuche die Sachen zu machen, die ich damals gebraucht hätte. Das ist meine Wiedergutmachung.
Katja: Wie sieht das konkret aus?
Lena Stoehrfaktor: Ich arbeite seit zehn Jahren einmal die Woche in einem Mädchenladen in Neukölln. Ich mache aber auch Workshops mit Schulklassen und Gruppen von Jugendlichen. Ich versuche, denen das Gefühl zu geben, dass sie gut so sind, wie sie sind. Und dass genau das wertvoll ist, wie sie sich fühlen, was sie denken, und es nicht darum geht, nur die Anforderungen der Gesellschaft zu erfüllen. Natürlich merke ich auch, dass Jugendliche, die so sind wie ich, mich auch manchmal nerven. Wenn ich alleine eine Riesengruppe habe und da einer ist, der super rumspringt und die ganze Zeit dazwischen redet, ist das anstrengend. Lehrer:innen sind da sicher oft überfordert. Aber ich glaube, diese Akzeptanz, sie trotzdem zu mögen, auch das Positive zu sehen und ihnen nicht das Gefühl zu geben, du bist falsch, ist extrem wichtig.
Katja: Lass uns mal ein bisschen über deine Musik sprechen. Ich habe mir in Vorbereitung auf das Interview „Die Angst vor den Gedanken verlieren“ (2012) angehört. Das war eine Platte, die mich damals total gecatcht hat, zum einen weil du da schon die Systemkritik drin hattest, aber weil die zum anderen auch echt traurig ist. Trotzdem finde ich, dass du das so gut in Worte verpacken kannst. Wie hast du dich in der Zeit gefühlt?
Lena Stoehrfaktor: Ich hatte eine Trennung hinter mir, hatte aufgehört zu kiffen. Ich stand am Anfang eines neuen Lebensabschnitts und hatte auf einmal extrem euphorische Phasen, die sich mit Depressionen abgelöst haben. Ich versuchte, mich selbst mehr auszuchecken. Und in diesem Prozess habe ich das Album geschrieben. Soweit ich mich erinnern kann, war ich relativ ungefestigt.
Katja: Da ist zum Beispiel dieser Skit mit Bettina Wegener für die Traurigkeit drauf. Sie sagt in dem Text, dass Traurigkeit ein wichtiges Gefühl ist, weil man, wenn man traurig ist, auch irgendwann wütend wird, und dann bereit ist, etwas zu ändern. Ich mag den sehr, auch weil sie sagt, positive Lieder könnten die anderen machen. Wie kam es zu diesem Text?
Lena Stoehrfaktor: Es war auch so, dass die Leute die traurigen Sachen nicht mehr hören wollten, die hatten keinen Bock mehr darauf und meine damalige Crew und ich wurden ständig damit konfrontiert – „Habt ihr resigniert? Das ist alles zu depri.“ Das hat uns sehr beschäftigt. Es gab in der politischen Ecke keinen Raum für Gefühle. Die Leute haben von uns Parolen erwartet, die Hoffnung herbeizaubern, wobei wir sowohl Positives als auch Negatives gesehen haben und beides thematisieren wollten. Die Leute wollten aber gerne einen Soundtrack zu einer nicht vorhandenen Revolution. Wir hatten eher das Gefühl, die Gesellschaft geht ziemlich bergab, die Leute wollten aber etwas zum Bergaufgehen haben. Das haben wir denen nicht gegeben. Es gab auch viel Ironie- und Spaß-Rap in der Zeit und das war ein Punkt, warum ich dachte – das können die anderen machen, ich muss über deepe Sachen rappen.
Katja: Kannst du beschreiben, was das Musikmachen in dir auslöst? Wie es dir hilft und was es für dich bedeutet?
Lena Stoehrfaktor: Naja, alles. Es ist aber sowohl Fluch als auch Segen, weil es alles befreien und dir das beste Gefühl geben kann – manchmal reicht Karaoke singen, das macht mich schon extrem glücklich, aber eben auch wenn ich einen Text schreibe oder den dann rappe. In dem Moment fühle ich mich Hundertprozent wahrhaftig. Der Fluch ist aber – das Ding mit dem Narzissmus –, dass ich Leistungsdruck habe, weil ich auf „Du bist gut, wenn du etwas leistest.“ konditioniert bin. Manchmal zweifle ich komplett an meiner Person, wenn ich einen Text schreibe, ihn aber als nicht gut empfinde. Das habe ich mitbekommen, das haben wir alle in dieser Gesellschaft mitbekommen. Das bringt die Musik auch mit sich, weil ich darüber die meiste Bestätigung jemals bekommen habe. Eigentlich weiß ich, dass ich, auch wenn ich mal einen Text verkacke, voll ok bin, aber die Prägung sitzt tief und natürlich fühle ich mich dann minderwertig.
Katja: In dem Track „Wenn wir die Lücken füllen“ von 2016 geht es um das Funktionieren für die Verwertungsgesellschaft – alles muss immer rund laufen, und wenn jemand nicht mitläuft oder eine Störung hat, dann wird er oder sie aussortiert. Ist die Gefahr dessen bei psychischen Belastungen vielleicht noch krasser?
Lena Stoehrfaktor: Wir werden alle an den Punkt kommen, an dem wir nicht mehr verwertbar sind in der Gesellschaft und dann kommt es darauf an, was wir vorher für eine Position hatten, ob wir eine gute Altersvorsorge haben oder Flaschen sammeln gehen. Bei manchen passiert früher irgendetwas, bei manchen später, auch je nachdem wie deine Startvoraussetzungen sind, was für eine medizinische Versorgung du dir leisten kannst, welche Jobs du machst, ob du mit 35 schon kaputt bist von irgendeinem krassen Job. Ich glaube, je belastender dein Leben ist, desto anfälliger bist du für eine psychische Belastung. Und natürlich – wenn du nicht funktionierst, bist du raus. Definitiv. Da brauchst du eine gute Absicherung. Wenn du Kohle hast, kannst du es vielleicht noch auffangen. Aber wenn du kein Geld hast, eine psychische Belastung und raus bist, wirst du auch danach kategorisiert. Eigentlich musst du gesund sein, eine super stabile Basis haben, damit es dich nicht trifft. Wenn aber diese Faktoren nicht zutreffen, kann es dich in den Abgrund oder auf die Straße ziehen.
Katja: Wobei man sagen muss, dass das Gesundheitssystem in Deutschland bestimmte Dinge noch halbwegs abfedert, sobald man so eine Diagnose hat, sobald man dieses System durchlaufen und einen Stempel von einer bestimmten Krankheit oder Störung hat, oder?
Lena Stoehrfaktor: Genau, du musst dir zu helfen wissen und die richtigen Schlüsse ziehen. Angenommen, du bist in einem sozial schwachen Umfeld aufgewachsen, du hast irgendwas, gehst aber nicht zum Arzt, weil du nicht die Kapazität hast, dich darum zu kümmern, das zu erkennen. Du hast vielleicht auch ein Umfeld, das nicht darauf ausgerichtet ist. Oder du bist einsam und hast niemanden, der dich unterstützt. Du kannst dir Hilfe holen, wenn du weißt, wo es Hilfe gibt. Du musst aber auch deine Rechte kennen. Ich habe ebenso schon von Leuten gehört, die waren beim Arzt und sind dann in die Klinik eingewiesen worden und kamen aus der Geschlossenen nicht wieder raus, weil sie sich selbst nicht gut vertreten konnten aufgrund der Umstände. Du musst dich also gut vertreten können, damit du dir selbst Hilfe holen kannst.
Katja: Gibt es auch einen Geschlechteraspekt bei dem Thema psychische Belastungen?
Lena Stoehrfaktor: Ich glaube, dass Frauen durch die Sozialisation Dinge eher in sich reinfressen, sich also eher selbst zerstören, die Männer dagegen Aggressivität nach außen lassen bzw. auch das Selbstbewusstsein mitbekommen haben, sich selbst eher als normal zu definieren. Wenn ein Mann erfolgreich ist und einen extremen Narzissmus hat, kann er sogar noch der krasse Machtmensch sein. Ich glaube, als Frau ist man aufgrund der unterschiedlichen Lebenswege und eines geringeren Selbstbewusstseins schneller mal die Komische. Es gibt da auf jeden Fall extreme Unterschiede. Ich habe auch das Gefühl, wenn – ich will nicht pauschalisieren, nur tendenziell – Männer ein psychisches Problem haben, fühlen sie sich länger im Recht als eine Frau, die das mehr nach innen kehrt, sich dann mit sich selbst beschäftigt und denkt, sie habe etwas falsch gemacht. Bei Männern könnte ich mir vorstellen, dass es den Nachteil hat, dass du so lange denkst, dass du im Recht bist, dass du dann irgendwann nicht mehr zu retten bist. Ich glaube, Frauen holen sich eher Hilfe.
Katja: Das glaube ich auch. Männer tabuisieren das eher, kehren das unter den Teppich und trauen sich nicht, sich jemandem anzuvertrauen. In „Worauf es ankommt“, einem deiner letzten veröffentlichten Tracks, geht es um Solidarität und dass es nicht Ziel sein sollte, die Beste zu sein, sondern Liebe zu schenken. Ich finde, das ist ein total hoffnungsvoller und empowernder Song! Wenn ich dagegen die 2012er Platte sehe, dann ist da krass etwas bei dir passiert zum Positiven für dich. Wie siehst du das?
Lena Stoehrfaktor: Mein Anliegen war zu zeigen, dass ich in einer bestimmten Haltung extrem gefestigt bin. Früher habe ich noch dagegen angekämpft und mittlerweile weiß ich, dass meine Meinung in dem Punkt hundertprozentig richtig ist, dass Leute, die andere immer kommentieren und runtermachen müssen, völlig indiskutabel sind. Die tun mir sogar leid. Ich habe in der Hinsicht mittlerweile eine extreme Gelassenheit und bin da abgeklärter, weil ich ganz genau weiß, darauf kommt es im Leben nicht an. Wenn du so bist, hast du den falschen Weg eingeschlagen. Und ich weiß ganz genau, dass der andere der richtige Weg ist.
Katja: Zum Schluss einfach noch die Frage: Was wünschst du dir für deine Zukunft?
Lena Stoehrfaktor: Ich wünsche mir Gelassenheit, wenig Stress, wenig körperliche Schmerzen und einfach noch mehr tiefe Erkenntnisse, von denen ich hundertprozentig überzeugt bin, die ich auch weitergeben kann, und eine Klarheit in Dingen und der Sicht aufs Leben
Transkription: Sandy Feldbacher
Dieses Interview wurde erstveröffentlicht im Buch „Nicht gesellschaftsfähig – Alltag mit psychischen Belastungen“.