„SELBSTSTÄRKUNG, SELBSTWIRKSAMKEIT UND SELBSTBESTIMMUNG“

Interview mit Jennifer Sonntag und Dirk Rotzsch

von Sandra Strauß

Foto Jennifer Sonntag und Dirk Rotzsch: Sandra Strauß

E-Mail vom 11.04.2020:

„Liebe Sandra,

einerseits bekomme ich meine eigene Depression inkl. Suizidgedanken nur in die literarische Form des Märchens gegossen. Anders fällt es mir schwer, darüber zu schreiben. Wenn es euch nicht zu kitschig ist oder aus anderen Gründen nicht ins Konzept passt, fänd ich es irgendwie ganz gut, es zu nutzen oder Teile daraus, die ihr passend findet. Andererseits fänd ich auch ein Interview reizvoll, was ich vielleicht mit Dirk zusammen beantworte. Hier könnte sich dann Betroffenen- und Angehörigensicht paaren. Das würde zwar auch ziemlich nahe gehen, aber hier hätten wir eine Form, in die wir auch noch mal Aspekte einflechten könnten, die einfach wichtig für die Thematik sind. Dirk hat ja auch seine Mom durch Suizid verloren und auch wenn ich das depressionsbedingt in meiner eigenen Verzweiflung damals nicht fühlen konnte, heute bricht es mir das Herz, wenn ich daran denke, wie Dirk meine Situation erlebt haben muss. Immer noch ein sehr wundes Thema, da Mobbing am Arbeitsplatz es nicht wert ist, ein Leben wegzuwerfen, aber meine Depression ließ mich nicht mehr klar denken und es kamen viele Dinge zusammen, die auch die stärkste Frau irgendwann nicht mehr kompensiert bekommt. Heute, mit etwas kühlerem Kopf, kann man in einem Interview vielleicht etwas Struktur ins Thema bringen. Wäre so ein Doppelinterview denkbar? Wir würden dann jeder einzeln auf jede Frage antworten, Betroffene/Angehöriger. Ob das gut wird, wäre ein Experiment.

Sei geherzt!

Jenny“

Sandra: Depression, Suizidgedanken, Mobbing am Arbeitsplatz. Bezugnehmend auf unsere Mail-Kommunikation und deine Antwort in unserer Einleitung: Wie habt ihr damals jede:r für sich die Situation erlebt? Wie hat es sich angefühlt? Wie seid ihr damit umgegangen?

Jennifer: Als Sozialpädagogin war ich selbst 16 Jahre in einem helfenden Beruf tätig und konnte viel Kraft und Lebensfreude weitergeben. Depressionen kannte ich an mir nicht und sie begegneten mir auch während meiner Erblindungsschübe nicht. In eine echte Krise geriet ich erst durch dauerhafte psychosoziale Anspannungen am Arbeitsplatz, die ich nicht lösen konnte. Ich verlor den Mut, Dinge anzusprechen. Ausgerechnet im Urlaub, in dem ich etwas Abstand gewinnen wollte, fühlte ich mich plötzlich, als wären die Dementoren aus Harry Potter über mich gekommen. Damals konnte ich diese starke Todesangst, diese Grabesplatte über mir nicht erklären. Ich wollte nicht sterben, nur Schluss machen mit dieser unerträglichen kalten Düsternis in mir. Ich war wie eine Sonne, der man alle Strahlen abgeschnitten hatte und kam mir vor wie eine schwarze Kugel, die im nächstbesten Loch für immer im Erdreich verschwinden wollte. Auch meine Blindheit erschien mir auf einmal unerträglich, unaushaltbar, obwohl ich sie längst verarbeitet hatte. Mein Partner konnte mich mit nichts ablenken, er erkannte mein Wesen nicht wieder, ich konnte nicht essen, nicht schlafen, wollte mich nur an ihn klammern, in dieser unfassbar großen Angst. Ich bin ihm so unbeschreiblich dankbar dafür, dass er den Alltag für uns einfach immer weiter gestaltet hat, an dem Stück Leben in mir drangeblieben ist, obwohl es für mich kein Leben mehr war. 

Dirk: Mich hat es erschüttert, dass ein so positiver Mensch, der mit seiner Behinderung so gut durch das Leben ging und für mich so ein Vorbild war und ist, wegen toxischer Personen und Situationen am Arbeitsplatz immer mehr in diese Abwärtsspirale kam. Das Schlimmste ist, dass man scheinbar nichts dagegen tun kann von außen. Ganz nebenbei sollte sich die Gesellschaft überlegen, ob sie es sich gefallen lassen sollte, dass durch das verantwortungslose oder missgünstige Verhalten Einzelner, erhebliche Ressourcen im Gesundheitswesen gebunden werden, es ist also auch eine volkswirtschaftliche Frage. Und ja, ich hatte sehr schlechte Gedanken in dieser Zeit und in einigen schlaflosen Nächten, was diese Personen betraf.

Sandra: Wie genau fühlt sich für dich die Depression an? Wie die Suizidgedanken?

Jennifer: Das hat sich im Laufe meiner Depressionserfahrung etwas gewandelt, da ich heute gut informiert bin. Ich war etwa Mitte 30, als ich das erstmals erlebte. Da ich das nicht kannte und nicht zuordnen konnte, hatte ich auch noch keine Selbsthilfewerkzeuge zur Bewältigung im Gepäck. Es fühlte sich wirklich an, wie lebendig begraben zu sein und nicht sterben zu können. Ich wünschte mir, einfach einzuschlafen und nicht wieder in diesem schrecklichen Horrortrip zu erwachen. Mein ganzer Körper zeigte Tag und Nacht Symptome einer Dauerpanik, aus der er sich nicht wieder erholte. Ich konnte nicht mehr arbeiten. Selbst meine Lieblingsmusik machte mir furchtbare Angst, unerträglich! Irgendwann sah ich dann innere Suizidszenen, falsche Erlösungswünsche, damit das endlich aufhören möge. Nahm mich Dirk mit auf den Wäscheboden, sah ich mich dort aufgehängt. Meinen Kiefer konnte ich viele Monate nicht mehr öffnen, weil mein ganzes Gesicht verspannt war. Es stellte sich ein Tinnitus ein, der mit der Zeit immer lauter wurde und mir als Blinde die Orientierung nahm. Später kam noch eine schwere Schmerzerkrankung hinzu, weil ich einfach keine Filter mehr hatte und mein Körper am Boden war. Einige dieser Symptome habe ich als chronische Erkrankungen behalten, heute weiß ich jedoch, dass mein Körper mir nur dabei helfen wollte, besser hinzuhören. Ich quäle mich nicht mehr mit der Frage, ob die Depression jemals erweckt worden wäre, ohne Missgunst, Neid und Manipulation am Arbeitsplatz. Ich war immer ein optimistischer Mensch und habe meine Arbeit geliebt, habe da viel persönliches Herzblut investiert. Heute kann ich anders reflektieren, sehe auch, welche Rolle meine Kindheit als gemobbtes Mädchen mit der dicken Brille spielte und die erlernte Erfahrung, unfairen Situationen hilflos ausgeliefert zu sein. Hier sehe ich inzwischen deutlich bessere Strategien, als die Verzweiflungstat Suizid. Inzwischen habe ich mich selbst intensiv zu diesen Themen weitergebildet und ziehe viel Wissen und Kraft aus der Psychoedukation und konkret aus der Schmerzpsychoedukation. Ich habe viel durchleuchten dürfen (auch müssen), viel loslassen können und habe Lebensmut, Neues zu entwickeln und weiterzugeben. Das waren überwältigende Prozesse, die wirklich ihre Zeit brauchten. 

Dirk: Ich bin immer noch von Jennys absolutem Überlebenswillen fasziniert, selbst als es richtig finster war, hat sie noch sehr rationale Gedanken gefasst und sie in die Tat umgesetzt, was ihre Therapie anging. Und selbst da wurden ihr seitens einiger medizinischer Einrichtungen Steine in den Weg gelegt. Für mich heute immer noch unfassbar: Nur weil du blind bist, musst du eben sterben an einer Depression, weil man sich nicht aus der Komfortzone bewegen mag in einigen Einrichtungen.

Sandra: Jenny, wie gehst du als blinde Frau mit dem und deinem inneren Dunkel um? Dirk, und wie gehst du als Partner damit um?

Jennifer: Interessant ist für mich, dass ich die Blindheit selbst nicht als dunkel erlebe, die Depression schon. Wenn die Depression sehr stark ist, beeinflusst sie jedoch sämtliche Lebensbereiche und somit wiegt dann auch die Blindheit schwerer. Die Depression schaltet meinem inneren Sehen dann quasi das Licht aus. Für meine sichtbare Behinderung finden wir oft pragmatische Lösungen, verzwickter sind die unsichtbaren. Das, worunter ich am meisten leide, sieht man mir eben nicht an. Meine Depression macht mich oft manipulierbar in Richtung Selbstzweifel und Schuldgefühle, und ich bin auf ehrliche, liebevolle und faire Beziehungen angewiesen. Es ist schwer, meinen Angehörigen meine Blindheit oder meine Depression auf emotionaler Ebene wirklich zu erklären. Selbst auf meine Eltern strahle ich nicht aus, wie schwer mir mein Leben so oft fällt. In unserer Partnerschaft hat es lange gedauert, bis Dirk klar war, was eine Panikattacke ist, und dass es nichts mit Beleidigtsein zu tun hat, wenn ich in einem solchen Zustand nicht mehr laufen, reden oder essen kann. Hier spielt dann auch die Blindheit wieder mit hinein, da ich dann eingesperrt in Gedanken der Hilflosigkeit und Abhängigkeit innerlich in tiefe Schwere abgleite, nach außen aber scheinbar stark wirke. Ich habe noch nicht herausgefunden, woran es liegt, dass ich oft in den Momenten meiner größten inneren Verzweiflung, wenn alles in mir nach Trost und Entlastung schreit, von manchen Mitmenschen verkannt werde und dann eher das Gegenteil erfahre. Das verstärkt dann noch mehr meine Panik und das Gefühl des Unverstandenseins. Für mich ist deshalb so unfassbar wichtig, auch zu reflektieren, warum wir reagieren, wie wir reagieren, nicht nur ich, auch der andere. Auch in einer Beziehung haben beide ihre Muster und Glaubenssätze, ich habe viel an mir gearbeitet, viel verstanden. Das ist Reibung aneinander, aber auch Wachsen aneinander und Entwicklung, die ich auch jeder depressionsfreien Beziehung wünsche. 

Dirk: Am wichtigsten ist, dass wir eine Diagnose hatten, das „Ding“ brauchte einen Namen, nicht eine harmlose Schlafstörung, die einen am Funktionieren hindert. Nein, es ist ein Dämon, der jede Chance nutzt, um zuzuschlagen, und er wird nicht gehen, er lauert. Das bedeutet, als Partner achtsamer zu sein, und ich bin da nicht immer perfekt.

Sandra: Jenny, du bezeichnest dich gern selbst als Patchworkdecke, zusammengenäht aus Fernsehmoderatorin, Buchautorin, Inklusionsbotschafterin und Sozialpädagogin. Wie kann man sich euren gemeinsamen Alltag vorstellen? Realisiert ihr gemeinsam all die vielen Projekte?

Jennifer: Zum Glück beackert mein Partner beruflich ganz andere Themenfelder und unsere Interessensgebiete sind zum Teil auch sehr unterschiedlich, was einander aber sehr bereichert. Es ist inspirierend, aus der Lebenswelt des anderen zu lernen und auch von seinen Sichtweisen zu profitieren. Ich bin dankbar für meine unfassbar große Kreativität und Schöpferkraft, die mir nie verloren ging und aus der ich umgekehrt auch wieder Kraft schöpfe. Natürlich habe ich aus gesundheitlichen Gründen kleinere Energiefenster und nehme mir jeden Tag andere Einheiten vor, die meinen gesundheitlichen Möglichkeiten angepasst sind. Dirk assistiert mir bei der Umsetzung optischer Belange, die nicht barrierefrei für mich funktionieren. Aber diese Hilfestellungen darf man auch nicht überstrapazieren, denn der Partner ist kein Hilfsmittel. Das braucht also klare Absprachen. Damit es sich für beide gut anfühlt, haben wir eigene Arbeits- und Rückzugsräume und jeder hat so seine Zuständigkeiten: So bin ich eher der Ordnungsfreak, Dirk der „Saubermann“, wir teilen uns in Finanzielles und Lebenspraktisches hinein. Was meine Arbeit betrifft, stehe ich aber schon allein für meine Inhalte. Manchmal begegnen wir uns aber in gemeinsamen Projekten – wie in diesem Buch, das schätze ich sehr. 

Dirk: Ich bin ja nur eine eher technische Hilfe und ansonsten gemäß des klassischen Rollenbildes im Haushalt verortet.

Sandra: Was genau bedeutet, dass du als Peer Beraterin zur Entdeckung der eigenen „inneren Lichtschalter“ motivierst?

Jennifer: Ich setze ganz große Stücke auf Selbststärkung, Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung. Auch bei der Bewältigung von Depression liegt ganz viel in unserer Hand bzw. in unserem Kopf. Selbstbestimmt können wir jedoch nur sein, wenn wir hilfreiche Tools kennen und über die Natur der Depression gut informiert sind. Wenn wir unsere Depression verstanden und uns darin umgesehen haben, ist es unsere Entscheidung, wie wir zukünftig damit leben wollen. Wenn ich zur Entdeckung und Benutzung der inneren Lichtschalter motiviere, geht es um das Aufzeigen hilfreicher Selbststärkungstechniken. Für jeden kann etwas anderes stimmig und hilfreich sein. Wichtig ist nur, dass man seine Lichtschalter kennt und sie dann auch anknipst. Ich musste selbst auch viel ausprobieren und herausfinden. In der Peer Beratung (Betroffene beraten Betroffene) liegt eine besondere Qualität, da Expert:innen in eigener Sache aus ihrer Erfahrung heraus sinnvolle Hinweise und Hilfestellungen geben können. Sie zeigen, dass Krisen überwindbar sind und können Hoffnung auf ein erfülltes und authentischeres Leben mit der Diagnose Depression machen. Es gab eine Zeit während meines Psychiatrieaufenthaltes, in der meine Mitpatient:innen mein größter Halt waren, allein weil sie alle um „den schwarzen Hund“ wussten. Qualifizierte Expert:innen in eigener Sache würde ich mir an jedem psychiatrischen Krankenhaus wünschen, ich hätte damals sehr davon profitiert. Mir liegen inzwischen besonders Depressionsbetroffene am Herzen, die zusätzliche Behinderungen haben, da es hier noch zu wenige barrierefreie Zugänge zum Hilfesystem gibt. Hier herrscht so ein bisschen das Bild vor: Behinderte sind ja schon behindert, die haben keine Depressionen. Doch, nicht wenige davon haben zusätzliche Gewalterfahrungen gemacht, Mobbing und Ausgrenzung erlebt und gerade sie brauchen ihre inneren Lichtschalter, um aus der Opferrolle auszusteigen.  

Dirk: Bei mir waren die inneren Lichtschalter in Räumen, die ich sehr ungern betreten habe. Ich habe mich oft mit Dingen im Außen beschäftigt, weil es im persönlichen Umfeld das eine oder andere gab, was ich für mich lieber verdrängt habe. Aber man muss für sich klar sein, um wirklich was im Außen bewegen zu können.

Illustration: Schwarwel

Sandra: Wie gehst du selbst mit Schmerz und Schmerzen, Verlust und Trauer um?

Jennifer: Multimodal. Im ersten Schritt half mir Aufklärung, Verhaltenstherapie und auch eine Kombination an Medikamenten. Wie Dirk schon erwähnte, haben mich einige Kliniken aufgrund der Blindheit abgelehnt, was zunächst natürlich zur Verstärkung der Symptome führte. Umso dankbarer war ich, als ich endlich nach einem langen Kampf im Hilfesystem angekommen war. Depression kann tödlich enden, wenn man keine Hilfe bekommt. Medikamente und Therapien sind aber nicht alles, irgendwann beginnt dann die Selbstwirksamkeit. Hier habe ich viel gelesen, erprobt, verworfen. Podcasts wie den „Psychcast“ und „Jung und freudlos“ fand ich sehr erhellend. Hier nahmen sich psychiatrische Mediziner nahbar und auf Augenhöhe die Zeit für Themen, die sonst immer nur den „Göttern in Weiß“ hinter verschlossenen Türen vorbehalten blieben, Betroffenen aber sehr in der Erkenntnistätigkeit helfen und Ängste nehmen können. Gerade im Internet sollte man aber sehr bewusst mit Informationsquellen umgehen und einen Blick für Seriosität entwickeln. In labilen Phasen wird man sonst leichtes Opfer von Scharlatanerie. Was mir auch hilft sind Struktur und Routinen, wozu Sport und Bewegung unbedingt dazugehören, mit Vorliebe an der frischen Luft mit meinem Blindenführhund oder auf der Yoga-Matte. Meine Arbeit muss ich in kleine Bausteine aufteilen. Das ist ein ständiger Balanceakt. Wer oder was ist mir zu viel, was will ich, was will ich nicht? Meine Kreativität und mein Wissensdurst helfen mir sehr, auch bei der Bewältigung meiner körperlichen Schmerzen. Ein Mosaiksteinchen zur Schmerzregulation ist inzwischen auch die Anwendung von medizinischem Cannabis in Sprayform, da ich es auf diese Weise besser dosieren kann. 

Dirk: Es ist nicht wirklich ein Verdienst meinerseits, dass ich körperlich relativ intakt bin, deswegen sind Schmerzen bei mir noch ein Zeichen, eine Art Ampel, die rot zeigt – ein gesundes Verhalten meines Körpers. Das gleiche Gefühl hätte ich gern bei Verlust und Trauer, es ist auf jeden Fall besser, wenn man sich nicht zu früh damit beschäftigen muss oder nur aus der Metaebene heraus. Mir ist zu früh die morbide Romantik, was das angeht, abhandengekommen. Für Resilienz bezahlt man aber auch einen Preis. Doch es ist natürlich eine Überlebensstrategie, wenn sich die Mutter eines bekennenden Muttersöhnchens suizidiert.

Sandra: Was kannst du anderen Menschen empfehlen, dass sie sich ihren eigenen Ängsten und Höllen stellen? Wie durchlebt man seine eigenen Ängste und Höllen?

Jennifer: Ich wünschte, dass sich auch die Menschen ihren Schatten und Höllen stellen, die in ihrer Umwelt große Schäden anrichten. Die gehen aber selten in die Selbstreflektion und das würde so sehr dabei helfen, Beziehungen auf allen Ebenen zu verbessern, sei es in Arbeitsprozessen, in der Politik, im Privaten. Letztlich ist alles Psychologie. Dann gibt es wieder die Menschen, bei denen ich sehe, dass sie in eine Krise geraten, wenn sie so weiter machen, aber von außen kann man da oft nicht die Bremse ziehen, solange der Mensch nicht selbst in der Erkenntnis ankommt. Leider stellen wir uns oft erst unseren Ängsten, weil wir irgendwann nicht mehr anders können. Das spitzt das Leben dann schon für uns zu, um uns zu zeigen, dass es da noch was Besseres gibt. Im Optimalfall verstehen wir die Botschaft. Manchmal wartet unsere Seele auch aus gutem Grund auf den richtigen Rahmen, uns einen Spiegel vorzuhalten, den Impuls zu geben, den wir noch brauchen, um aus der Falle zu kommen. Wenn wir das dann durchlebt und daraus gelernt haben, dann nehmen wir das hoffentlich mit der Selbstfürsorge ernster, weil wir dann überhaupt erst wirklich wissen, was das sein soll. Ich habe immer Menschen bewundert, denen Selbstschutz so in der Natur lag. Wenn Symptome anklopfen, sollten wir sie nicht überhören, sonst brüllen sie irgendwann unüberhörbar und legen uns lahm. Wenn wir die Seele dauerhaft überlasten, erledigt uns der Körper. Deshalb sind meine Symptome inzwischen echte Kumpels, wenn sie lauter aufdrehen, muss ich irgendwas runterregeln. Niemand muss sich zwingen, ständig in Innenschau zu gehen und gesunde Menschen müssen auch nicht aus Trendgründen ihr Leben künstlich psychiatrisieren, solange sie sich und anderen nicht schaden.   

Dirk: Was mir gerade in dieser Zeit wichtig wäre: Dass der Nebenmann für die Höllen und Ängste des anderen Verständnis hat und sich emphatisch und solidarisch verhält. Denn der Gesunde von heute ist definitiv der Siechende von morgen, und was du heute scheinbar wegsteckst, wird dir vielleicht morgen das Genick brechen.

Sandra: In deinem Botschafterin-Text für die „Stadt der Sterblichen 2019“ schriebst du folgendes: „Verlust, Trauer, Veränderung – das sind Themen, an denen ich nicht nur mit erblindenden Menschen arbeite, sondern auch mit Menschen, die ihren Blickwinkel, ihre Sichtweise verändern müssen, um sich nicht im Nebel der Verzweiflung zu verlieren. Blind zu sein, ist nicht furchtbar, es ist nur furchtbar, Blindheit nicht ertragen zu können. Ähnlich verhält es sich mit Schmerz, Trauer und Depression. Deshalb möchte ich Menschen ermuntern, ihre Seelenzustände besser verstehen zu lernen.“ Wie kann man seine Seelenzustände besser verstehen lernen?

Jennifer: Aufklärungsarbeit ist hier sehr, sehr wichtig. Für jeden sind andere Informationskanäle stimmig. Dieser ganze Wahnsinn, Angst, Depression, Suizidgedanken, wenn einem jemand erklärt, wie das entsteht, wie sich das aufbaut, wie das wieder abflacht, dass es dafür Begriffe und Bilder gibt, dann fällt unheimlich viel von einem ab. Das ist der erste Schritt aus dem Grab. Das Unerklärliche, Unaussprechliche, Unfassbare ist das Bedrohliche und letztlich auch das Tödliche. Deshalb müssen wir reden, verstehen, sichtbar machen, niedrigschwellige Soforthilfen schaffen. Ich habe z. B. erst kürzlich durch einen Podcast erfahren, dass auch Suizidgedanken in Phasen verlaufen und es da eine Spanne zwischen Erwägung und Planung bis zur Durchführung gibt. Außer beim Affekt oder in der letzten Phase gibt es in allen Phasen gute Chancen, durch Aufklärung und Auffangen Betroffene aus ihrer Sackgasse zurückzuholen. Allein zu wissen, dass diese Gedanken durchaus zur Depression gehören können und ich darüber reden darf, war mir eine Offenbarung. Richtig klar wurde mir das wiederum erst durch Uwe Haucks Buch „Depression abzugeben“. Nie hatte mich jemand gerade in meiner schwersten Zeit darüber aufgeklärt, das hätte mir so viel Last von der Seele genommen. Im Krankenhaus wurde ich zwar regelmäßig nach lebensmüden Gedanken gefragt, hatte aber unheimlich Angst, sie zu äußern, da ich die Konsequenzen fürchtete. So zeigte ich das sozial erwünschte Verhalten als Blinde, die im Krankenhaus keine Probleme machen wollte, und plante auf der offenen Station nächtlich an meinem Lebensaustritt. Zum Glück hörten meine Mitpatienten hinter verschlossener Tür meinen Zusammenbruch und holten ärztliche Hilfe. Wie soll ein Mensch, der ein Leben lang kontrolliert war, Erwartungen anderer entsprach und wenig Zugang zu seinen Bedürfnissen hatte, gelernt haben, offen über seine Suizidgedanken zu sprechen? Auch die Angst, auf eine geschützte Station zu kommen, war sehr groß. Dabei ging ausgerechnet an diesem Ort für mich das Lebenslicht langsam wieder an. Deshalb ist es bei diesen überlebenswichtigen Themen wichtig, Berührungsängste zu nehmen und transparent zu sein. Ich habe leider Menschen durch Suizid verloren, die mit Sicherheit ihre Seelenzustände nicht verstanden haben, nicht mit den richtigen Menschen darüber sprechen konnten oder keine passenden Hilfsangebote kannten. Hierin liegt aber eine so große Chance! In meinem „Seroquälmärchen“ arbeite ich meine Suizidgedanken auf und gehe sehr lebendig daraus hervor. Das Buch enthält einen Warnhinweis, weil Menschen in schweren depressiven Episoden nicht getriggert werden sollen. Es ist besser, das Buch erst später zu lesen. Eine Märchenfigur entscheidet sich für den falschen Weg und ich konnte sie betrauern, da ich auf diese Weise den richtigen Weg für mich fand. Auch wenn mein Märchen etwas so Schweres wie den Suizid thematisiert, habe ich es mit all meinen Sinnen dem Leben gewidmet und möchte es auch so verstanden wissen. Ich habe den Anteil angeschaut, der gehen wollte, um bleiben zu können, den heiklen Tanz zwischen Stabilisierungsmedikation und Selbstbestimmung getanzt und über das Märchen erstmals Worte gefunden, die mich von den Taten abhielten. Ein Suizid in einer schweren depressiven Episode kann niemals selbstbestimmt sein! Hier bestimmt die Depression, nicht wir. Und genau hier kann man so gut helfen, denn eine Depression ist behandelbar, der Suizid nicht mehr!

Dieses Interview wurde erstveröffentlicht im Buch „Nicht gesellschaftsfähig – Alltag mit psychischen Belastungen“.