ER SCHNITT LÖCHER IN DEN ZAUN UND KETTCAR RISS DEN SCHLEIER WEG

von Christian Kümmel
Nun stand ich also dort. Am 30. Januar 2020 im Alten Schlachthof Dresden. Vor dem Zweimetermann Marcus Wiebusch. Und mein Herz schlug bis zum Hals. Das tat es nicht etwa, weil ich schon immer großer Fan war. Kettcar und ich lebten sehr viele Jahre vollkommen aneinander vorbei.
Die SMS eines Freundes im September 2017 änderte mein Verhältnis zu dieser Band jedoch innerhalb weniger Minuten von Grund auf. Nein, diese Nachricht veränderte mein ganzes Leben. Sie beinhaltete den Link zum Video von „Sommer ’89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)“. Ich sah es mir an und nach wenigen Augenblicken flossen die Tränen und sie hörten nicht mehr auf zu fließen.
In den Strophenteilen beschreibt Marcus Wiebusch mit seinem Sprechgesang, wie sich der Protagonist des Songs von Hamburg aus auf den Weg macht, um in Österreich zum Fluchthelfer zu werden. Die DDR-Bürger schaffen den Weg in die Freiheit. Diese Aktion erntet allerdings nicht nur Applaus.
Was hatte das alles mit mir zu tun? Es schien ja durchaus etwas in mir auszulösen.
Das Lied wurde in einer Zeit veröffentlicht, in der das Thema „Flüchtende“ zu vielen Kontroversen im gesellschaftlichen Miteinander geführt hatte. Wir leben in einem kleinen Ort mit etwa 3500 Einwohnern und haben eine Gemeinschaftsunterkunft mit bis zu 800 Geflüchteten in unmittelbarer Nähe. Es verging damals kein Tag, an dem nicht irgendein menschenverachtender Spruch im Netz stand.
Kettcar spannte in „Sommer ’89“ einen unausgesprochenen Bogen zur Jetztzeit, der mich tief berührte.
Doch das war eben nicht alles. Dieser Song löste jedes Mal in mir ein wahnsinnig intensives Gefühl aus, das kaum zu beschreiben ist. Es setzte mich wortwörtlich außer Gefecht. Die Tränen flossen bei jedem Mal Hören. Bei wirklich jedem Mal.
Dass Musik Emotionen in mir auslöst, kannte ich. Gut sogar. Ich weiß von manchen Songs noch genau, wo ich sie zum ersten Mal gehört habe und was ich dabei fühlte. Von Gänsehaut über Euphorie bis hin zu Tränen. Alles tausendmal gefühlt.
Noch tiefergehende Gefühle hatte ich erst vor wenigen Jahren, als mein Vater im Sterben lag. Im Auto lief „A Warm Place“ von den Nine Inch Nails und ich rutschte in eine tiefe Trauer und spürte gleichzeitig Trost.
Doch ein Erlebnis wie bei „Sommer ’89“ hatte ich weder vorher noch jemals danach. Es ging wohl doch um viel mehr, als ich anfangs dachte. Kettcar küsste mit diesem Lied ein Trauma in mir wach, von dem ich bis dahin absolut nichts wusste.
Als ich 11 Jahre alt war, entschieden sich meine Eltern, die DDR zu verlassen. Als mein Vater die Entscheidung ausgesprochen hatte, sah ich ihn zum ersten Mal weinen. Ich habe dieses Bild noch heute im Kopf.
Das Thema Flucht lag in unserer Familie sprichwörtlich schon immer in der Luft. In den 1970ern gab es beispielsweise einen Versuch, über die ungarische Grenze nach Jugoslawien zu kommen. Es ging schief und der Fluchtversuch konnte zum Glück nicht eindeutig nachgewiesen werden. Von diesen Geschichten gab es viele. Seit dem Bau der Mauer wollte mein Vater raus aus dem Arbeiter-und-Bauern-Staat. Die Gründe sind nachvollziehbar, gehören hier allerdings nicht hin.
Wir Kinder wurden schon frühzeitig in alles eingeweiht und mussten schweigen. Wir wussten, dass unsere Eltern sonst eingesperrt worden wären. Das ist schon der erste Teil meines Traumas.
Kettcar hat plötzlich und ohne Vorwarnung den grauen Schleier weggerissen und in mir Gefühle tiefer Traurigkeit und großer Unruhe ausgelöst. Lange Zeit konnte ich nicht einordnen, woher diese rührten.
Kettcar hat plötzlich und ohne Vorwarnung den grauen Schleier weggerissen und in mir Gefühle tiefer Traurigkeit und großer Unruhe ausgelöst. Lange Zeit konnte ich nicht einordnen, woher diese rührten.
Wir bangten von 1987 bis Oktober 1989, ob wir eine „Genehmigung zur ständigen Ausreise“ erhalten würden. Jeden Tag, den ich nach dem Abschicken des Antrags von der Schule nach Hause kam, fragte ich mich, ob meine Eltern zu Hause sein würden oder in Untersuchungshaft säßen. Einige Freunde meiner Eltern gingen den Weg über den Stasi-Knast in Zuchthäuser der DDR. Als Kind blieb ich erstaunlich gelassen und ungerührt. Es machte mir wenig aus. Ich funktionierte gut. Die Angst blieb aus und ich lernte stattdessen die Telefonnummer des Schweizer Cousins meines Vaters auswendig, damit ich im Fall der Fälle Alarm schlagen konnte.
Wir hatten großes Glück und verließen das Land zwei Tage vor dem 40. Jahrestag der DDR und einen Monat vor dem Mauerfall.
Es folgte eine mehrmonatige Phase, in der wir versuchten, eine neue Heimat zu finden. Ich durfte neue Schulen besuchen und war anfangs das „possierliche Tierchen“ aus dem Osten. Viele Fragen an den ersten Tagen – dann die Verbannung in die Unscheinbarkeit. Meine alten Freunde waren über Nacht in einem anderen Land – meine sozialen Bindungen lebten in einem sozialistischen Staat, den wir nach damaliger Annahme viele Jahre nicht besuchen würden. Die Traurigkeit wurde von einer Neugier auf die tolle bunte Welt überdeckt und letztlich weggedrückt.
Marcus Wiebuschs Stimme weckt diese Traurigkeit jedes Mal aufs Neue. Läuft der Song in der Playlist, skippe ich weiter, um nicht mit tränennassem Gesicht in den ALDI zu gehen. Läuft er im Konzert von Kettcar, lasse ich die Tränen einfach laufen und sehe es als Vorstufe einer Therapie.
Ich stehe also am 30. Januar 2020 im Alten Schlachthof Dresden und beobachte, wie Herr Wiebusch geduldig Autogramme schreibt. Ich frage ihn, ob er eine kurze Abwechslung möchte. Und dann endlich bedanke ich mich bei ihm. Mit klopfendem Herz. Für ein wichtiges Lied. Wichtig für die Gesellschaft, die nicht lernen will, dass „Humanismus nicht verhandelbar ist“, wie Marcus Wiebusch „Sommer ’89“ immer wieder ansagt. Für mich persönlich noch wichtiger, weil es mir gezeigt hat, dass der Junge von damals Verletzungen erlitten und Wunden behalten hat, die noch lange nicht verheilt sind.
Mein Trauma wurde von Kettcar wachgeküsst. Das gibt mir die Chance, irgendwann den Mut zu finden, daran zu arbeiten und es aufzulösen. Das ist ein wunderbares Geschenk. Danke dafür.
Dieser Text wurde erstveröffentlicht im Buch „nichtgesellschaftsfähig – Musik, Psyche, Identität und Gesellschaft“.