FEUERFEST

von Luci van Org
Ich öffne die Glastür des Kamins. Die Flammen, die eben noch kläglich über das rot glühende, an einigen Stellen schon ganz verkohlte Holz gekrochen sind, lodern mit leisem Brausen wieder auf, Hitze schlägt mir entgegen. Ich lege einen neuen Scheit auf, und als die Glut unter ihm zusammensackt, lösen sich Funken, fliegen mir direkt ins Gesicht. Ich habe keine Angst.
Keine Angst. Einen winzigen Augenblick spüre ich nach, ob das stimmt. Ob mir gerade wirklich nichts den Atem nehmen und mein Herz rasen lassen will, bis es in der Kehle wehtut oder mir in die Beine fahren, sodass ich aufspringe und weglaufe, irgendwohin, so weit es geht.
Nein, da ist tatsächlich nichts. Ich. Habe. Keine. Angst.
Und wie jedes Mal, wenn das in Gegenwart von Feuer so ist, feiere ich innerlich mein ganz eigenes, kleines Freudenfest.
1976, Bildungsbürger – Weihnachten. Am Baum nur Äpfel, Gebäck und echte Kerzen, davor die neue Puppenstube, passend zu den Biedermeier-Möbeln, handgesägt in gedeckten Farben mit Biegepüppchen von der Firma Käthe Kruse. Viel zu empfindlich, um richtig damit zu spielen, aber knallbunte Kinderträume aus Plastik werden nicht geschenkt. Weil sie prollig sind. Genauso prollig wie das Lied „Oh du Fröhliche!“, weshalb wir vor dem Geschenkeauspacken alle gemeinsam „Es kommt ein Schiff geladen“ anstimmen. A capella. Das kennt Papa von seiner Zeit im Domchor, damals im Krieg. „Und wer dies Kind mit Freuden umfangen, küssen will, muss vorher mit ihm leiden, groß Pein und Marter viel …“, singen meine Eltern, die gar keine Christen sind, und mein Bruder und ich. Zusammen mit der Mutter meiner Mutter und dem Vater meines Vaters, die Großmama und Opapa heißen, weil es prollig ist, Großeltern Oma und Opa zu nennen. Fröhliche Weihnachten.
Im Lichterglanz schreite ich danach andächtig zu meinem Geschenk, selbst zurechtgemacht wie eine Puppe aus dem Käthe-Kruse-Universum mit meinen langen, bronzefarbenen, streng geflochtenen Zöpfen. Im Schein einer schlichten, weißen Kerze, die direkt vor mir in einem edlen Messingleuchter steht, bestaune ich die heile Puppenwelt, als ich plötzlich ein Knistern höre, ganz nah an meinem Ohr. Irritiert blicke ich mich um, weil ich das Geräusch nicht einordnen kann, und nehme Feuerschein wahr. Vor mir in der Zimmerecke. Dort, wo im Glas der Vitrine mein Spiegelbild zu sehen ist. Es ist viel Feuer, richtig viel und ich erstarre vor Schreck.
Da wird es plötzlich dunkel. Ich werde zu Boden gerissen und durch irgendetwas Dickes, Wolliges, das jetzt über mir liegt, höre ich meine Großmutter panisch schreien. „Klopfen! Klopfen!“
Ich weiß nicht, wie ich danach ins Badezimmer gekommen bin. Aber als ich dort auf dem Hocker vor Waschbecken und Spiegelschrank stehe, ist das Licht so grell, dass ich alles zunächst nur verschwommen sehe. Nach und nach erkenne ich dann, dass ich Ruß im Gesicht habe und Brandlöcher in meinem Rollkragenpulli und dann, dass mein rechter Zopf verschwunden ist. Wo er mal war, hängt nur noch ein verschmorter, flaumig-filziger Rest Haar, der bestialisch stinkt. Ich fange an zu weinen.
Da kommen meine Mutter und meine Großeltern herein. Sie schimpfen ein bisschen, weil es nun wirklich nichts zu weinen gibt, bei dem vielen Glück, das ich gehabt habe. Denn obwohl ich so unachtsam war, bin ich wie durch ein Wunder völlig unverletzt. Nur ein paar winzige Verbrennungen an den Armen, die gar nicht wehtun.
Ich ziehe ein anderes Oberteil an, dann gibt es Schweinefilet zu klassischer Musik und am ersten Weihnachtstag schneidet meine Mutter mir den anderen Zopf ab, damit alles wieder symmetrisch ist.
Mit der Puppenstube habe ich nie gespielt.
Ein Psychologe erklärte mir Jahrzehnte später, dass es nach einem solchen Erlebnis meist noch zwei weitere, kleinere Trigger braucht, um eine Phobie zu entwickeln.
Ein Psychologe erklärte mir Jahrzehnte später, dass es nach einem solchen Erlebnis meist noch zwei weitere, kleinere Trigger braucht, um eine Phobie zu entwickeln. Als ein Schulkamerad aus Wut auf meine Klassenlehrerin den Papierkorb meines geliebten Klassenzimmers in Brand setzt, stehen alle, die nach vorn an die Tafel gerufen werden, noch Wochen später in einem stinkenden, verkohlten Loch im Linoleum. Vorher Klassenbeste versage ich dort von da an jedes Mal, bis der Bodenbelag repariert ist. Den zweiten, diesmal nur zur Hälfte weggeschmorten Zopf verdanke ich dann einer Weihnachtskerze. Zwei Jahre nach der ersten übersehe ich sie, bereits zittrig vor Angst vor den Flammen am Baum und einzig darauf konzentriert, diese Angst zu überspielen. Wegen der Blicke meiner Eltern, die, wann immer sie meine Furcht bemerken, vorwurfsvoll den Kopf schütteln. Und wegen meines Bruders, der, wann immer er mich zu ängstlich findet, direkt vor meinem Gesicht Streichhölzer anzündet, eins nach dem anderen, und in der Nähe meiner Haare damit herumwedelt. Bestärkt von meinem Vater. Irgendwie muss das Mädchen sich ja schließlich wieder an Feuer gewöhnen, auch wenn es dabei noch so sehr weint oder schreit.
Als der beste Kumpel meines Bruders am darauffolgenden Silvester mit einer Armeetasche voller Feuerwerkskörper in die Luft fliegt und mir danach mit rußschwarzem Gesicht, bis auf den Knochen verkohltem Unterarm und fehlendem Ohr an der Haustür entgegenkommt, völlig unter Schock, bevor er oben in seiner Wohnung zusammenbricht, wirkt das dieser Gewöhnung allerdings deutlich entgegen. Sein von Schmerz und Grauen wie versteinert wirkender Blick brennt sich unauslöschbar in meine Erinnerung. Jede Möglichkeit, schon mit dem kleinsten, zahmsten Feuer nur ansatzweise noch irgendetwas Positives oder wenigstens Neutrales zu verbinden, ist von da an absolut ausgeschlossen.
Genau wie die Möglichkeit, Menschen zu finden, die für dieses Unvermögen Verständnis aufbringen. Weil an einen Weihnachtsbaum nun einmal echte Kerzen gehören, wenn das Fest nicht prollig sein soll, und ich nur mitfeiern kann, wenn ich das akzeptiere. Weil alle mich auslachen, wenn ich mich im Winter immer wieder panisch nach möglichen Brandherden umsehe, nur, weil die Berliner Luft in dieser Zeit grundsätzlich vom Rauch der Allesbrenner geschwängert ist. Weil es unanständig ist, als Kind von Pazifisten beim Ostermarsch Angst vor Bildern von Napalm- und Atombombenopfern zu haben, statt andere mit diesen Bildern aufzurütteln. Weil man sich als Teenager doch nicht mehr vor Gewitter fürchtet – oder davor, dass das Haus anfängt zu brennen, wenn der Blitz einschlägt. Weil zu Kinderfesten und Jugendtreffs nun einmal Holzkohlegrills und Lagerfeuer gehören und später Kerzen zum Knutschen und Fummeln und ich froh sein muss, überhaupt Freunde oder jemanden zum Knutschen und Fummeln zu haben, so seltsam, wie viele mich finden.
Wegen der Ticks, die ich entwickelt habe.
Nicken mit dem Kopf, Zwinkern mit den Augen, Zucken mit dem Bauch, stoßweises Ausatmen. Sie treten um so heftiger auf, je mehr ich mich dafür schäme, und ich schäme mich eigentlich immer. Irgendwann bekommt der Körper das eben nicht mehr ganz hin mit dem Überspielen. Zumal dann, wenn zur panischen Angst vor Feuer noch so vieles andere dazukommt, das verborgen werden muss. Meine Eltern schaffen das besser als ich. Zumindest noch eine Zeitlang. Wenn meine Mutter unter den Faustschlägen meines Bruders gegen die Wohnzimmertür kracht, läuft klassische Musik.
Als ich zu Beginn meines 16. Lebensjahres mit Hilfe des Jugendamtes ausziehen und vor diesem Anderen meine eigene Wohnungstür verschließen darf, lassen die Ticks nach.
Als ich zu Beginn meines 16. Lebensjahres mit Hilfe des Jugendamtes ausziehen und vor diesem Anderen meine eigene Wohnungstür verschließen darf, lassen die Ticks nach. Dafür kann ich nicht mehr schlafen, wenn meine Mitbewohnerin nicht zu Hause ist. Aus Angst, die Wohnung oder gleich das ganze Haus könnte währenddessen anfangen zu brennen. Tagsüber quält mich der Gedanke, durch irgendeine Unachtsamkeit, ein auf dem Herd vergessenes Essen oder ein brüchiges Kabel, mein mir so unendlich kostbares, eigenes Zuhause wieder zu verlieren. Weil ich ahne, dass ich schon bei der kleinsten Flamme panisch und völlig kopflos davonrennen würde, sobald niemand da wäre, vor dem ich mich schäme.
Wobei ich das, wovor ich mich genau fürchtete, im Detail bis heute seltsamerweise gar nicht benennen kann. Feuer, egal, ob klein oder groß, war gleichbedeutend mit panischer Angst und kopflosem Entsetzen, ohne dass es jeder weiteren Erklärung bedurfte. Genauso seltsamerweise bin ich damals, obwohl mein Bruder wegen seiner drogeninduzierten Psychosen schon bald eine Odyssee durch die Nervenheilanstalten Berlins hinter sich hatte, nie auf die Idee gekommen, mir psychiatrische oder psychologische Hilfe zu suchen. Zu sehr hatte sich nicht nur die Scham in mir verfestigt, sondern auch die Ansicht, ganz allein an meinem idiotischen, mich in so vielen Lebensbereichen einschränkenden Verhalten schuld und damit auch allein dafür verantwortlich zu sein.
Davon, wie ich mit 17 im Alleingang damit begann, eine selbst erfundene, komplett bescheuerte „Konfrontationstherapie“ durchzuziehen (und dabei beinahe die Berliner Halbinsel Schwanenwerder abfackelte, aber das ist eine andere Geschichte) und so schließlich, bis auf ganz wenige Ausnahmen, tatsächlich Herrin meiner Angst wurde, will ich nichts weiter erzählen. Weil es gefährlich und idiotisch und leichtsinnig und einfach nur falsch ist, Dinge aus Scham mit sich selbst auszumachen, die in Wahrheit in die Hände von Fachleuten gehören. Ich selbst hatte einfach nur Glück. Wahnsinniges Glück, wie so oft in meinem Leben.
Aufgrund meiner Erfahrungen möchte ich lediglich noch eine Bitte an alle Gesunden richten, die mit phobischen Menschen zu tun haben. Bitte nehmt diese Menschen ernst. Bitte lacht nicht über sie oder triggert sie ungefragt mit Absicht, weil ein kleiner Prank doch nun wirklich nichts Schlimmes ist. Wer ausgelacht wird, schämt sich, wer sich schämt, sucht sich keine Hilfe und wer keine Hilfe findet, leidet weiter. Mehr, als ihr euch das vielleicht vorstellen könnt.
Ich selbst hätte damals – wie wohl alle Menschen – einfach Zuspruch und Unterstützung gebraucht. Nicht, was die Angst selbst anging. Von jemandem in vorauseilendem Gehorsam alle möglicherweise angstauslösenden Momente panisch aus dem Weg geräumt zu bekommen, hätte mich in meiner Furcht wohl nur weiter bestärkt. Wirklich Kraft hätte mir dagegen wohl das Wissen gegeben, mich nicht schämen zu müssen. Zu wissen, dass es für ein Gegenüber nicht schlimm oder befremdlich oder peinlich ist, wenn ich Angst habe. Zu hören, dass es Hilfe gibt und es kein Zeichen von Versagen ist, sie auch anzunehmen.
Genau der Umgang eben, der bei jeder Art von Krankheit einfach nur selbstverständlich sein sollte.
Dieser Text wurde erstveröffentlicht im Buch „Nicht gesellschaftsfähig – Alltag mit psychischen Belastungen“.