LOVE IS A LOSING GAME – Der letzte Vorhang für Amy Winehouse

Illustration: Schwarwel

von Anne Martin

Belgrad, 18. Juni 2011. Rhythmusgruppe, Bläsersektion und Background-Sänger, alle in eleganten lachsfarbenen Anzügen gekleidet, betreten – begleitet von durchprogrammierter und offensichtlich sauteurer Lightshow, gepaart mit Jubel von Tausenden – die riesige Bühne, gemacht für eine Riesenstimme. 

Es ist das erste der zwölf Konzerte umfassenden Europa-Tour der mehrfachen Grammy-Gewinnerin Amy Winehouse. Und ihr letztes. Einen Monat später stirbt die Ausnahmesängerin mit 4,16 Promille im Blut.

Der Drummer zählt ein zum Intro, das diejenige auf die Bühne begleiten soll, die seit ihrer Kindheit in einem Vorort von London mit der Liebe ihres Vaters zu Jazz-Legenden wie Ella Fitzgerald, Tony Bennett und Frank Sinatra aufwuchs. Die Musik, der Gesang, das Vermögen, ihr innerstes Empfinden in Worte zu fassen, sind ihr Lebenselixier. 

„Belgrade! Introducing Amy Winehouse!“, ruft einer der Backings, vielleicht ein bisschen weniger enthusiastisch, als er es eigentlich sollte zum Start eines bevorstehenden, mit Sicherheit ausverkauften Tourneemarathons. Er wird in diesem Moment wissen, warum. Denn er tourt mit einem Star – ganz und gar nicht stereotyp, seit langer Zeit begleitet von Skandalen aus einer Mischung von Männern, harten Drogen, Alkohol, wissend, dass alle Welt auf seinen nächsten Absturz giert und zeitgleich einen Scheiß darauf gebend, was alle Welt von ihm hält. Dafür wird Amy Winehouse geliebt. Sie ist unangepasst, liefert aber noch im größten Suff ab, weil sie liebt, was sie tut. Alles davon. Bis zu diesem Moment.

Seit sich Amy Jade Winehouse, keine 20 Jahre alt, mit ihrem Debütalbum „Frank“ 2003 in Großbritannien und der weitergefassten Jazz-Szene einen soliden Namen gemacht hatte, trennte sie sich mitsamt des eben noch aktuellen Stabs an Produzenten und Management, der sie künftig gern als jazzy Spice-Girl-Hybrid vermarktet hätte, auch gleich von sämtlichen Konventionen – ein Leben im Rausch inbegriffen.

Als die zierliche, junge Frau mit der Stimme einer resonanzlastigen, schwarzen Bühnenveteranin erscheint, rastet Belgrad aus und niemand wundert sich über ihre desolate Erscheinung und die Kurvenschuhe, die sie offensichtlich trägt. Es ist eben Amy Winehouse: eine Lebefrau mit zunehmend fragwürdigem Kleidungsstil (der angesichts der durch sie wiederbelebten Bienenkorbfrisur ohnehin in den Hintergrund rückt, obwohl die an diesem Abend komplett auseinandergefallen ist), die man aus jedem Boulevard-Magazin, ob in Print oder Bewegtbild, jederzeit getrost in das britische Party-Moloch Black Pool hätte verpflanzen können.

Sie war eine Künstlerin, die schrieb, sang und spielte, was die Seele ihr befahl.

Mit flachen, hellen Schuhen wippt-wankt sie nicht etwa zum Mikrofon, sondern direkt in die Arme ihres Gitarristen, ohne dabei einen Blick in Richtung Publikum zu verschwenden. Von dem Umstand, dass sie dazu gar nicht mehr imstande ist, einmal abgesehen, waren Bühnenauftritte für Amy Winehouse per se eine mehr als unangenehme Angelegenheit. Sie war eine Künstlerin, die schrieb, sang und spielte, was die Seele ihr befahl. Sich dabei noch vor erwartungsvollen Menschen zu exhibitionieren, die sie für die Stärke ihrer vorwiegend lebensdunklen Liedinhalte feierten, machte ihr Angst. Ein oder mehrere „Amaretto Sour“ vor, während und nach den Shows lockerten den strangulierenden Knoten der Panik wenigstens so, dass sie „arbeitsfähig“ war.

Losgelöst von ihrem Gitarristen findet sie den Weg zum Mikrofon, um nichts zu sagen, sondern die Arme vor dem Köper zu verschränken. Fragil und verletzlich, nicht trotzig und arrogant. Sie wendet sich wieder vom Publikum ab und setzt sich mit dem Rücken zu ihm auf einen Monitor, um sich die leichten Stoffschuhchen auszuziehen. Eine zu große Last. Als sie wieder aufsteht, fällt sie vornüber auf die Knie. Der Drang der Tausenden, ihr aufzuhelfen oder sie einfach zu halten, quillt wie eine Druckwelle zur Bühne. 

Sie steht. Gleich, um sich von dem, der sie gerade noch ansagte, fest in die Arme nehmen zu lassen. Im Griff dieses gesunden, trainierten Mannes wirkt sie wie eine zerschlissene Puppe, der ein Kind im Spiel die Haare mit Kernseife gewaschen hat.

Die Menschen vor der Bühne scheinen nicht zu existieren, sie nimmt sie nicht wahr. Die Präsenz einer Amy Winehouse lag von Tag Eins ihres Seins als Künstlerin in der Stimme und nicht in der Intensität ihrer Körperspannung oder wie sie mit dem Publikum sprach, wenn sie denn mit ihm sprach.

Das erste Lied beginnt, aber die Sängerin singt nicht und die Musiker ziehen ihren Stiefel durch. Sie sind Profis wie sie. Ist sie es, wollte es je sein?

Es sind ihre Lieder, die auf der Setlist stehen. Sie hat sie erlebt, durchlitten, geschrieben, komponiert und eingesungen: Die Trennung von ihrem heroinabhängigen Freund. Zack. „My Tears Dry On Their Own“.

Es sind ihre Lieder, die auf der Setlist stehen. Sie hat sie erlebt, durchlitten, geschrieben, komponiert und eingesungen: Die Trennung von ihrem heroinabhängigen Freund. Zack. „My Tears Dry On Their Own“. Die insistierende Bitte von Vater Mitch und Management, sich endlich wegen ihres Alkoholkonsums therapieren zu lassen, nachdem sie Freund und harten Drogen den Rücken gekehrt hatte. Bums. „Rehab“. Die Scheidung nach Monaten vom heroinabhängigen Freund, den sie dann doch geheiratet hatte. Pow. „Back To Black“. Je mehr tot sie war, desto schöner wurde ihre Kunst.

Jetzt steht sie da vor ihrem Mikrofon und man sieht, dass sie gern beginnen möchte mit irgendetwas. Sie holt Luft, um im Ausatmen zu stoppen. Sie hält die Hände vor den Mund wie ein verlegenes Schulmädchen, das sie übrigens nie war. Die Strophe kommt nicht aus ihr heraus. Die Musik läuft weiter, die Musiker lächeln. Sie sagt etwas – das erste Mal zum Publikum oder so – und es ist nur zu erahnen, dass sie da gerade den Tenor-Saxofonisten vorstellen will. Doch ein Profi: Wenn ich meinen Text vergessen habe, lenke ich eben ab. Jedoch so automatisiert, denn für derlei berechnende Abfolgen zur Peinlichkeitsbregenzung ist sie längst nicht mehr in der Lage. Das Lied geht verfrüht zu Ende, ein neues beginnt. Das wird sich so durch den ganzen Abend ziehen.

Die Fans singen mittlerweile Amys Parts zwischen den Instrumentalsoli der Kollegen, die verzweifelt die von Vielen gezahlte Konzertzeit irgend zu füllen versuchen. Immer mal wieder ruft ihr jemand in der ersten Reihe „Amy, you can do it!“ zu.

Ohne Frage, sie hat es geschafft. Mehrfach musste sie als junges Mädchen die Schulen wechseln, bevor sie in einer bekannten englischen Talentschmiede für Bühnenkünstler kurzzeitig Halt fand. Sie ließ sich nichts sagen. Das war schon als Kind so; Trotzgesicht, Stampfefuß und verschränkte Arme inklusive.

Jahre später steht die mit Preisen überschüttete Göre mit eben diesen verschränkten Armen vor ihren Backgroundsängern, die sie überreden wollen, das Konzert in Belgrad abzubrechen. De facto hat sie an diesem Abend noch kein einziges Lied zu Ende gebracht. Längst ist auch die Stimmung bei den Zuschauern gekippt, die miterleben, wie Amy Winehouse über die Maßen abgefuckt ihre Mitarbeiter auf der Bühne bloßstellt, indem sie sie über das Mikrofon – wenigstens das ist für alle zu verstehen – zynisch beschimpft, sie zum Singen nötigt und dabei immer wieder unfreiwillig die Kontrolle über ihren Körper verliert. Vor einer anderen Kulisse hätte dieses Szenario wahrscheinlich in einer Kneipenschlägerei geendet.

Die Menschen vor der großen Bühne können diese Nuancen eines von Konsum und Bulimie gezeichneten Körpers nicht ausmachen.

Auch ihre Augen sprechen Bände. Sie sind glasig und leer und wollen nur mit größter Anstrengung nicht in den Hinterkopf rollen. Die Menschen vor der großen Bühne können diese Nuancen eines von Konsum und Bulimie gezeichneten Körpers nicht ausmachen. Sie feiern die verbliebenen Musiker und den Sänger, der offensichtlich neben dem Gitarristen ihre Bezugsperson auf der Bühne ist und mittlerweile ganze Titel alleine singt, um diesen Abend halbwegs zu retten. Spontan geschieht das nicht. Er und die Band werden schon wissen warum.

Während Amy versucht, mit ihren staccatoartigen Bewegungen der R’n‘B-Choreografie ihrer Backings standzuhalten, und der Zuschauer kurz geneigt ist, zu glauben, sie persifliere die Kollegen und darüber schmunzeln möchte, schlägt die Realität voll zu, weil Tausende Menschen gerade live einen jungen Menschen auf der Bühne sterben sehen. Nur kurz halten sich Rufe wie „Shamy!“ (Danke, „The Sun“!) oder „Who are you?“.

Zwischen den wenigen verteilten Whooo-Girls im Publikum, die ohnehin alles bejubeln, sobald es einen Beat oder heißen Hintern hat, wird es großflächig mit jedem weiteren angestimmten Titel beklemmend leiser. Selbst dem Unempathischsten unter ihnen wird klar: Diese Joe-Cocker-Gedächtnis-Moves sind keine Attitüde, das Augenrollen keine Überheblichkeit, ihre Hand, die immer wieder in die des Backgroundsängers greift, keine amourös konnotierte Zuwendung. Die Stumme schreit, nimmt sich zeitweilig wirklich und regelrecht selbst in den Arm, indem sie nach „Love Is A Losing Game“ beide schützend wie Schutz suchend um ihre Schultern schlingt.

In der Liebe kannst du nur verlieren: Diese Erkenntnis vor dem Hintergrund einer selbstzerstörerischen und gleichermaßen mit Genie getränkten jungen Seele, die sich hinter Turmfrisur, dickem Lidstrich und Tätowierungen, ausgewählt nach dem Zufallsprinzip wie Abziehbildchen aus dem Kaugummiautomaten, verbarg, tat jedem weh, der Zeuge war, wie sich dieser fragile Mensch über Jahre mehr und mehr verlor, in diesem Sog künstlerisch jedoch mehr und mehr aufging. Ein Klassiker, möchte man meinen, führte Amy Winehouse mit ihrem Tod am 23. Juli 2011 die namhafte Gästeliste des Club 27 sehr angemessen fort.

Bleibt die Frage, was da noch hätte kommen können oder müssen. Ihr Duett mit Tony Bennett hatte sie. Veröffentlicht wurde „Body And Soul“ zwei Jahre nach ihrem Tod, aufgenommen wenige Monate davor. Neben ihrem großen Idol schüttelt sie den Jazz-Standard in wenigen Takes aus dem Ärmel, weil sie dem, was sie tat, ihr Leben gab. Tony Bennett war zum Zeitpunkt der Aufnahme Mitte 70 und lebt noch.

Elton John auch, nur kann er sich an eine ganze Dekade seiner Karriere mitsamt der darin entstandenen Alben, die Geschichte schrieben, nicht erinnern. Für einen Künstler bedeutet auch das den Tod, nur mit körperlicher Anwesenheit.

300 unveröffentlichte Titel wie bei Prince, dessen musikalische Geschichte wohl noch jahrelang weitererzählt werden kann, wird man bei Amy Winehouse sicherlich nicht in einem Safe finden. Sie teilte ihre Geschichte für den Moment, nicht für die Zukunft. Und auch wenn ihre Texte, ihre Stimme, ihre Musik noch Generationen über die zeitlos aufgearbeiteten Schattenseiten des Lebens berichten werden, ist ihre Geschichte am Ende vielleicht einfach auserzählt.

Dieser Beitrag wurde erstveröffentlicht im Buch „#nichtgesellschaftsfähig – Tod, Verlust, Trauer und das Leben”.