ZWISCHEN TEL AVIV UND SÜDFRIEDHOF – Ein Versuch, Abschied zu nehmen

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von Silko Kamphausen und Mandy Uhlig

Als unser Kind starb, passierte etwas Unvorstellbares. Ein Ereignis, so falsch, dass es sich nicht in Worte fassen lässt. So unerwartet, weil in dieser Welt dich niemand darauf vorbereitet, dass dein Kind sterben könnte. Babys werden geboren, sie leben, sie werden groß und überleben ihre Eltern. Dass Kinder sterben, passierte früher oder am anderen Ende der Welt. Der Tod wird wörtlich an den Rand geschoben und so haben wir Hinterbliebenen keine Worte für das, was passiert. Wenn dein Kind stirbt, vor allem wenn es so klein ist, wenn nur wenige Menschen dein Kind kennenlernen durften, dann begegnet dir ein monströses Schweigen. Eine Leere, in die du stürzt. 

Ungeheuer treten in dein Leben, von denen du nicht dachtest, dass sie existieren. Wut, Hass, Verzweiflung, Traurigkeit, Sehnsucht und über allem die bleierne Trauer, die dich an manchen Tagen kaum atmen lässt. Die verheißungsvolle Zukunft, die sich glitzernd und golden mit der Geburt deines Kindes vor dir ausbreitet, stirbt mit dem Kind. All die Freude, die Träume und Hoffnungen, all die Hormone umsonst produziert. Du bist umsonst.  

DER ANFANG des Wir-Seins 

Sie, die Feministin, er, der Karrierist mit vier Stunden täglichen Schlafs. Sie, die Kapuzenpullover mit der Aufschrift „Ausschlafen ist wichtiger als Deutschland“ trägt – gerne provokativ zur Schau gestellt. Er, der mehr weiße Hemden und Lackschuhe hat, als andere Unterwäsche ihr eigen nennen. Sein iPhone ist ihre ZEIT und ihre gefühlt zehntausend Bücher. Drei Jahre haben sie beinahe zusammengearbeitet. Er hat sie in der Firma eingestellt. Von Anfang an war eine Spannung da. Die Widersprüche, das Reiben, das Aushandeln hält bis heute an. Stets professionell beim „Sie“ geblieben. Aber mehr Zeit und Gelegenheiten im Firmenkontext für einen Austausch gesucht, als nötig gewesen wäre. Beratungen bis 22:00 Uhr in der Raucherecke, weil die Zeit vergessen wurde und alle das Licht schon ausgemacht haben. Mitarbeitende sprachen von einer „konstruktiven Spannung“. Dann kam die Weihnachtsfeier. Wie typisch und so billig. Aber unvergesslich: viel, sehr viel Alkohol, noch mehr Zigaretten, mehr oder minder gute Musik. In der MB (= Moritzbastei) mit den Kolleginnen und Kollegen versackt. Er wollte gehen, Affektkontrolle war nur noch bedingt da. Als Chef für ihn nicht akzeptierbar. Dann fragt SIE nach einem Abschlussbier. Und nach einem längeren Zögern küsste er sie. Eine unvergessliche Nacht. Zwei Tage danach sind sie verabredet. Er geht zu ihr und ist gestylt und roch nach Armani, als wäre er für eine Modenschau bereit. Sie öffnet die WG-Tür. Nasse Haare, verwaschenes Shirt, Jogginghose. Jogginghose! Gefühlt alles zugeklebt mit feministischen Stickern und Anti-Penis-Bildern. „Patriarchat gehört abgeschafft“. Kippen in der Küche. Sie dachte, es sei das versöhnliche Ende. Er küsst sie. Es war der Anfang für eine gemeinsame Zukunft. Jedes Paar hat seine persönlichen magischen Momente. Wir haben viele davon. In Krisen werden diese wichtiger denn je. Geben Halt und Sicherheit. Wir haben uns in den schlimmsten Momenten stützen können, weil wir so unterschiedlich sind.

Die Welt ist nach dem Tod deines Kindes nicht mehr dieselbe.

Die Welt ist nach dem Tod deines Kindes nicht mehr dieselbe. Oder irgendwie schon. Teile sind gleich und andere nicht. Es ist schwerer, sich darin zurecht zu finden. Die alten Regeln gelten nicht mehr. Wir waren nicht mehr vollständig. Vielleicht ist das niemand, der die Realität des Todes verstanden hat, dem so schlagartig bewusst wird, wie zerbrechlich das Leben ist. Der versteht, dass dem Leben nicht zu trauen ist. Aber kein Sterben ist vergleichbar. Anders: Keine Trauer ist vergleichbar.

Danach teilt sich das Leben. Es gibt den einen Teil, indem es nach der Zäsur nichts mehr geben kann. Keine weiteren Fotos, keine gemeinsamen Erlebnisse, keine Einschulung, keine erste Liebe. Es bleibt Leere. Und diese Leerstelle ist nicht zu ersetzen, sie ist kaum zu ertragen. Wir denken uns aus, wie sie wäre. Und füllen den Teil unseres Lebens, der übrig geblieben ist, mit dem Konjunktiv. Was wäre wenn? Wie würdest du lachen, worüber würdest du weinen und wütend sein? Welcher Mensch wäre dein Lieblingsmensch? Würdest du gern tanzen? Wir denken uns aus, wo du nun bist und dass es dir dort gut geht. Insbesondere die Mama sucht nach einer Geschichte, die ihrem unruhigen Mamaherz, welches voller Sorge um ihr kleines Baby ist, Ruhe schenkt. 

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DAS ERSTE JAHR 

Wenn zwei Menschen so unterschiedlich sind, muss alles neu verhandelt werden. Das ist eine Stärke und eine Schwäche gleichermaßen. Unser späteres Glück. Kein Besitzanspruch auf den Menschen und den Körper des anderen. Alles ist drin. Jeder behält seine Freiheiten. Sich selbst. Keine Abhängigkeiten. Aber ein Gemeinsam. Ein Jahr voller wunderbarer, streitbarer Momente und harter Diskussionen über das Leben, Entwürfe und Beziehung. Viele spontane Ausflüge zur Ostsee, in Waldhütten mit Kamin, nach Wien ins Kaffeehaus, immer wieder Berlin in unser kleines Nest, eine Wohnung die nur uns gehört. Spontan. Frei. Keine Arbeit, keine Konventionen, keine Tabus. Nach drei Monaten hat er das zweite Mal in seinem Leben seine Gefühle ausgesprochen. Er! Angst, sich hinzugeben und zu öffnen. Angst, verletzt zu werden. An den Stränden Tel Avivs die Füße in den Sand gebohrt und geliebt. 

Dann der Moment, als der Test nach der Israel-Reise positiv anschlägt. Ein Baby! Bitte nicht. Nicht jetzt. Es läuft doch so gut. Sie, die nicht einmal wusste, ob sie je Mutter werden wollte. Er, der auf keinen Fall nochmal Vater werden wollte. Beratungen folgen. Dann der Moment, als beide sich eingestehen, Angst zu haben und das Baby haben wollen, weil beide sich auf den Zellhaufen freuen. Was wollen wir für unser Kind für Eltern sein, was wollen wir dem Kind mitgeben, wie soll es aufwachsen? Bei den Weltzerwürfnissen überhaupt ein Kind in die Welt setzen? Getrennte Wohnungen, gemeinsames Hausprojekt, klassisch wie gefühlt alle anderen Familien auch? Wir vertrauen. Er hat ein Projekt und sucht ein Zuhause und wird fündig. Sie verwirklicht sich und liebt – ihn und den Zellhaufen. Manchmal fragt er sich, was gewesen wäre, wenn sie beide sich nicht so sehr gefreut und geliebt hätten. Wäre es dann einfacher zu ertragen gewesen?

Wenn dein Kind stirbt, dann stirbt auch etwas in dir.

Wenn dein Kind stirbt, stirbt dieses kleine Glücksversprechen. Wenn dein Kind stirbt, dann stirbt auch etwas in dir. Und das ist wirklich so, nicht nur so dahin geschrieben. Dieser Teil lässt sich nicht fassen, nicht umranden mit der Fingerkuppe, aber wir spüren, etwas hat Mascha von uns mitgenommen und es wird weg sein für den Rest unseres Lebens.

SIE

Wir hatten diese 10,5 Monate zusammen. Im ersten Monat warst du eine kleine überwältigende Überraschung. Du warst nicht geplant. Aber als ich deinen Herzschlag gehört hab, da musste ich lächeln. Und dann haben wir unsere Optionen abgewogen. Ich war bei der Schwangerschaftskonfliktberatung und musste mich meinen Monstern stellen. Eins davon war Mutterschaft. Und dann habe ich mich getraut. Und ließ dich wachsen. An mein Herz heran. Es war ein Abenteuer. Aber ich habe dich geliebt. Und dein Papa hat dich geliebt. Und wir waren bereit. Nur du wolltest nicht. Erst lagst du verkehrt. Dann wie von Wunderhand richtig. Und dann hat es ewig gedauert, bis du kamst. Ich musste erst einen Termin in der Klink machen, damit du dich auf dem Weg machst. Man kann also sagen, du warst gemütlich. Etwas zu entspannt. Einmal hier, schien es dir nicht zu gefallen. Du schliefst ein und wolltest nicht mehr aufwachen.

DIE EINE NACHT 

Beide wollten eine Geburtshausgeburt, damit Frau und nicht die Ärzte die Geburt bestimmen. Ökos waren beide gewiss nicht. Nur selbstbestimmt. Viele Vorgespräche bei Ärzten. ALLES GUT. Lange Geburt. Stark, kraftvoll und dennoch ruhig. ALLES GUT. Er hatte ein komisches Gefühl und fragte nach der Geburt, ob es Mascha gut gehen würde. Er wird lauter. ALLES GUT. Sie gehen nach Hause. Er fragt nochmal, ob möglicherweise etwas nicht stimmen könnte. Bauchgefühl. ALLES GUT. Sie sollen Mascha wegen bonding auf die Brust legen. Er fragt nach, ob das eigene Bett nicht besser sei. Nein – bonding sei so wichtig. ALLES GUT. Sie schläft mit Mascha ein. Er verkündet der Welt seinen Stolz. ALLES GUT. Sie wacht nach zwei Stunden in gleicher Position auf. 

NICHTS IST GUT. Mascha atmet nicht. 

Sie ist noch warm. Die Mama macht ihn wach. Sie ist starr. Er schreit sie an, die Hebamme anzurufen. Sie ruft panisch die Hebamme an, die nebenan wohnt. Mascha schlafe doch nur. Hebamme legt auf und hat sich wieder schlafen gelegt. Er ruft zeitgleich den Notdienst. Legt sie auf den kalten Boden. Beugt sich über seine wunderschöne Tochter, die ein leichtes Lächeln durch die hochgezogenen Mundwinkel hat. Bis zum Schluss. So friedlich. Wir hoffen, dass sie es nicht mitbekommen hat und uns bereits verlassen hat. Er reanimiert. Drückt das Herz 30 Mal. Drückt seine Lippen auf die seiner Tochter. Sie kühlt ab oder war es nur die Wärme der Mama? Temperatur sinkt immer weiter. Kopf wird kälter. Lippen blau. Brustkorb hebt und senkt sich mit jedem Atemzug, den er einhaucht. Der Mann am Telefon erkennt die Situation sofort und sagt, dass er sich keine Gedanken machen soll, ob es zu stark ist. Hör nicht auf, du darfst nicht aufhören. Mach weiter. Immer und immer wieder. Er darf nicht weinen. Sirenen heulen. Straße wird weiträumig gesperrt. Feuerwehr, Krankenwagen, Notärzte, Kinderarzt und Sanis. Sie übernehmen. Sie schocken. Sie spritzen. Wieder und wieder. 

NICHTS IST GUT. 

Sie reanimieren, als sie aus der Wohnung getragen wird. Überall Kabel. Hektik. Angst in den Blicken der Ärzte. Feuerwehr hält die Eltern zurück. Im Obduktionsbericht wird stehen: Mascha war gesund, reif und lebensfähig. Sie starb an SIDS. Der Arzt und der Pathologe sagen in einem persönlichen Gespräch, dass diese frühe Form des plötzlichen Kindstodes leider geschehen würde. Später werden die Eltern erfahren, dass der Notarzt seinen Dienst in dieser Nacht nicht fortsetzen konnte.

SIE

Hat Mascha gelebt, wenn sie kaum jemand kannte? War sie wirklich da? Ab wann ist ein Mensch wirklich da? Vielleicht war sie schon immer mehr eine Idee als ein Mensch mit Fülle und Identität. Sie hatte keine Zeit, eine kleine Persönlichkeit zu werden. Das ist sie nur in unserem Kopf. Und warum kann ich sie dann so schrecklich vermissen? Wäre sie ohnehin gestorben? War ihr Tod vermeidbar? 

Maschas Tod hat mir eine neue Angst gebracht. Ein Aufschrecken in der Nacht, eine große Sorge um die Menschen, die ich liebe. Eine Angst, die sich nicht einfach abschütteln lässt. Maschas Tod hat mir eine neue Ernsthaftigkeit gegeben. Eine Form des Erwachsenseins. Es hat mir meine Naivität genommen. Denn die Plötzlichkeit des Todes lässt dich von nun an hadern. Zahlen zählen nicht mehr. 1 von 1000 Kindern pro Jahr in Deutschland. Ist das häufig? Wenn mir jetzt Menschen was von geringen Wahrscheinlichkeiten erzählen, muss ich zynisch lächeln. Wahrscheinlichkeiten gelten nicht mehr. Naturgesetze sind außer Kraft gesetzt. Mascha hatte einfach aufgehört, zu atmen. Mehr weiß man nicht über die Diagnose „Plötzlicher Kindstod“. Es gibt keine nachgewiesene Erklärung, es lässt sich keine Todesursache nachweisen. Eine sogenannte Ausschlussdiagnose. Es gibt Tricks, wie man die Kinder ans Atmen erinnert. Oft reicht es, sie kurz am Fuß anzustupsen, manchmal reicht es, die Position zu wechseln. Aber es gibt Möglichkeiten. Es gibt Vorsichtsmaßnahmen. Wenn man googelt, findet man einiges. Ich habe während der Schwangerschaft vieles gegoogelt. Mit welchem Waschmittel man die Babysachen waschen soll oder welche Wundcreme man nutzen sollte. Aber nicht, welche Schlafposition die sicherste für ein Baby ist. Ich werde mich das nach Maschas Tod sehr oft fragen, warum ich nicht mehr dazu gelesen habe. Nach Maschas Tod werden mir viele Menschen sagen, dass ich ja nur das Beste für sie wollte, deshalb habe ich sie auf meiner Brust schlafen lassen. Bonding: Eine enge Bindung zwischen Baby und Eltern aufbauen, beispielsweise durch Hautkontakt, liebevolle Kommunikation, inniges Kuscheln. Nur wenige werden sich trauen, mir gegenüber zu sagen, dass die Rückenlage immer das Beste für ein Baby ist. Ich werde auch über ein Jahr später zu meinem Freund sagen, dass dieses Gefühl wohl immer bleiben wird, dass ihr Tod vermeidbar gewesen wäre. Etwas, was so einfach scheint, so selbstverständlich und du scheiterst. Mascha könnte heute leben. Sie sollte heute leben. Tut sie aber nicht. Ein kleiner Fehler. Einmal kurz unaufmerksam. Ein wenig zu viel Naivität. Und ein Mensch ist tot. 

Für diese Trauer gibt es keinen Trost. 

Du bist nach dem Tod deines Kindes nicht mehr dieselbe. Es klingt wie ein Klischee, aber die Welt teilt sich auch in ein Davor und ein Danach.

Du bist nach dem Tod deines Kindes nicht mehr dieselbe. Es klingt wie ein Klischee, aber die Welt teilt sich auch in ein Davor und ein Danach. Die wenigen Stunden, die ich mit meiner Tochter hatte, werden zu einem Epizentrum meiner Zeitrechnung und das Auge des Sturms ist der Moment, in dem ich realisiere, dass meine Tochter „nicht reagiert“. Ich erlebe diesen Moment immer wieder. Alles wird für immer ineinander übergehen. Innerhalb von 24 Stunden. Du, die zwischen meinen Füßen liegt und sich für einen kurzen Moment nicht bewegt, aber dann hustet. Du warst für mich ein Wunder. Von Anfang an. Ein Wunder, dass sich Zellen zusammensetzen und dabei allen Regeln folgen, so dass am Ende ein gesunder Menschen geboren wird. 

Du bist so zart und wirkst so zerbrechlich. Du schläfst ein in den Armen deines Papas. Du reagierst auf meine Stimme, wie ich deine Wange streichele. Deine Haut ist so weich. 

Du bist so zart. Ein Flaum bedeckt deine Haut. 
Du bist so schön. 
Du warst da. Du warst real. 

Das werden Menschen um uns vergessen oder nicht wissen. Ich habe davon geträumt, dich die nächsten Wochen immer und immer wieder anzusehen, bis ich dich auswendig kenn. Deine Augen waren dunkelblau. Deine Wimpern nicht ganz so lang, wie dein Papa es sich erhofft hat. Deine Haare schwarz. Wir schlafen ein. Ich wache auf. Ich halte dich im Arm und der Gedanke, dass etwas nicht stimmt, schleicht sich an. Ich wusste noch nicht, dass du tot bist. Dein Kopf war kühl und ich dachte du brauchst eine Mütze. Und dann geht alles ganz schnell. Ich rede mit dir. Du reagierst nicht. Und die Angst schleicht sich an, wird zur Panik und ich erstarre. Ein Teil in mir will sich wieder hinlegen, weiterschlafen, so tun, als wäre das, was gleich passieren wird, vermeidbar. Ich wecke deinen Papa. Ich lag nicht auf dir. Ich lag nicht auf dir. Und dann vermischt sich in meinem Kopf der Geruch des Geburtshauses mit dem des Krankenhauses. Desinfektionsmittel. Masken. Ich muss mich am Geländer festhalten, denn ich habe dich gerade mal vor neun Stunden geboren. Du liegst in Kästen. Nur noch in Kästen. Nicht mehr in meinem Arm. Nicht mehr auf meiner Brust. Ich bete. Ich muss glauben, dass deine letzte Erinnerung, dein letztes Gefühl, mein Herzschlag, meine Haut war und nicht die Adrenalinspritze in deinem Fuß. Der kalte Boden unter dir. Ich bete noch heute, dass es die Stimmen deines Papas und deiner Mama waren, die du zuletzt gehört hast, und nicht die der fremden Menschen, die die letzten beiden Stunden bei dir waren. Ich habe gebetet, dass Gott dich rettet. Aber das hat er nicht.

Ein Arzt empfängt uns und sagt uns, dass sie nichts mehr für dich tun konnten. Ich war seltsam still, seltsam starr. Ich konnte keine Regung zeigen. Und dann wollte ich nur noch zu dir. Ganz still lagst du dort. Noch ein paar Drähte, die nutzlos an dir hingen, weil sie nichts mehr übertragen konnten. Dein Papa weinte. Alles ist dunkel und unscharf. Und so still. Auf dieser Neugeborenenstation. Mitten in der Nacht. Umgeben von lebenden Babys, die schlafen, schläfst auch du. Eine Schwester teilte uns mit, dass wir nun alle Zeit der Welt haben, uns von dir zu verabschieden. Und wir dachten, wir hätten alle Zeit der Welt, um uns kennen zu lernen.

Ach, Mascha.

Dein Papa sagte noch, ich sollte dich noch einmal anfassen, deine Hand halten, dich streicheln. Ich hatte Angst davor. Heute ärgere ich mich darüber. Ich ärgere mich über so vieles. Ich hätte bei dir bleiben sollen. Es muss unfassbar einsam dort gewesen sein. All die Grabpflege in dem kommenden Jahr wird das nicht wieder gut machen können, dass ich dich nicht die restliche Nacht gehalten und gewärmt habe, mein Herz. Es wird so viele Dinge geben, die ich mir noch vorwerfen werde. Man lernt im Leben und im Geburtsvorbereitungskurs so vieles. Aber nicht, wie man sein verstorbenes Baby schützt und tröstet. Wie man sich selbst tröstet.

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ER

Ich weiß um die Statistiken zur Paartrennung und seelischen Erkrankungen in Folge eines Traumas. Umso mehr bemüht war ich, den Alltag sofort aufrechtzuerhalten, habe um Normalität gekämpft. Täglich aufstehen, das Bett verlassen, duschen, schick machen und atmen. Nicht noch mehr Verluste war mein Ziel. Es war so unfassbar schwer, dass ich manches Mal dachte, wir würden es nicht schaffen. So oft hatte ich morgens keine Kraft. Jeder Tag war zeitweise ein Kampf. Ich wusste, wenn ich liegenbleiben würde, ich würde nicht mehr so schnell aufstehen. Im Nachgang denke ich, es wäre auch einfach in Ordnung gewesen. Wir waren seelenlose Hüllen, die durch unseren leeren Traum in der Wohnung umherwanderten, die für uns ein neues Zuhause werden sollte. Wir haben uns bewegt, aber gelebt haben wir nicht. Ihre beste Freundin musste sofort alle Kindersachen, alles was mit Mascha zu tun hatte, in ein separates Zimmer wegpacken. Als wäre sie nicht dagewesen. Das Zimmer konnte ich Wochen nicht betreten. Das erste Mal war nach etwa sechs Wochen. Das erste Mal, dass ich meiner Trauer den Raum gegeben habe. Für mich neben der Beerdigung der härteste Moment. Ich spüre das Gefühl heute noch. Wir haben es nicht aushalten können. Meine größte Angst war, nach Hause zu kommen und meine Partnerin nicht mehr vorzufinden, dass sie mich verlassen hat oder manches Mal auch Schlimmeres. Ich kann nicht mehr schlafen, wache jede Nacht auf. Laufe umher oder sitze am Bettrand. Es wird täglich ein Stück besser, manchmal schlechter und dann geht es wieder bergauf. Aber es wird. Die Trauer ist da, manchmal weit weggeschoben, manchmal so nah, dass ich nachts schwer atmen kann. Dann stehe ich wieder auf. Kämpfe mit den Tränen und lasse sie nicht mehr zu. Mascha ist ein Grund, sich zu freuen. Nicht zu weinen. Ich bin es mir und ihr schuldig. 

Gespürt habe ich wenig. Mich am wenigsten. Ich habe erlernte Strategien umgesetzt. Die Leidenschaft war jedoch weg.

Corona-Lockdown und der Tag der Geburt. Der Tag des Todes unserer Tochter fielen auf einen Tag. Die Welt in Aufruhr. Damals war ich stellvertretender Geschäftsführer. Der Krankenstand stieg in der Firma extrem an. Der Geschäftsführer nicht mehr da. Die Prognosen rutschten in die tiefroten Zahlen. Keine entscheidungsbefugte Person anwesend. Eine Woche später sollte ich offiziell die Firma übernehmen. Ein Unternehmen in der schwersten Krise der 25-jährigen Geschichte zu führen und Sicherheit, Souveränität und Zuverlässigkeit auszustrahlen, hat unfassbar viel Kraft gekostet. Persönliche Emotionen hatten da keinen Platz. Es ging nicht um mich. Ging es in der Zeit nie. Ich habe die Leitung übernommen, habe Strategien zur Bewältigung der Pandemie erarbeitet und mit einem tollen Team die Firma in einem ruhigen Fahrwasser gehalten. Gespürt habe ich wenig. Mich am wenigsten. Ich habe erlernte Strategien umgesetzt. Die Leidenschaft war jedoch weg. Nach fünf Monaten, als ich realisierte, dass das Leben noch so viel mehr birgt als der Tod, bin ich in mein neues Büro umgezogen. Die Leidenschaft und die Liebe zu meinem Leben kommen allmählich zurück. Dafür bin ich dankbar, weil ich nicht daran geglaubt habe.

SIE

Der Tod eines Kindes bedeutet immer ein Verlust für mindestens zwei Menschen, die im selben Ausmaß leiden. Das Schlimme daran ist, dass man ständig hin und her schwingt zwischen Selbstfürsorge und Sorge um den oder die Partner*in. Die Trauer hat uns beiden Kraft geraubt und ich bin wirklich froh, dass Menschen in unserem Umfeld, allen voran meine beste Freundin, uns viel unterstützt haben und zum Beispiel in den ersten Tagen die ganzen organisatorischen Telefonate übernommen hat. Damit hatten wir Zeit zu trauern und uns nicht aus den Augen zu verlieren. Ich habe oft gehört, dass die Väter nach dem Verlust in diesen Aktionismus verfallen und den Tod nicht verarbeiten. Das war ständig meine größte Sorge. Mein Freund hatte sich viel um mich gekümmert. Er hat mir am Anfang die nötige Struktur gegeben. Ich glaube, er hatte große Angst um mich. Und ich hatte Angst um ihn. Es ist schon ein Wunder, dass wir nicht daran zerbrochen sind. Wir haben in dem Sommer nach Maschas Geburt viel gestritten. Einfach, weil wir so am Ende waren. Wir hatten beide ein dünnes Nervenkostüm, keine Möglichkeiten, Kraftreserven aufzutanken. Immer wenn es ruhig wurde, zum Beispiel im Urlaub, kam die Trauer wieder mit voller Wucht und du kamst aus dem Minusbereich gerade mal bis zur Null, aber nie in den Plusbereich. Seine Gesundheit stand auf dem Spiel. Viele Arztbesuche folgen und die Frage kreist über uns, ob es auch irgendwann genug ist. Ich werde ihm zum Ende des Jahres sagen, dass wir nach Maschas Tod vieles richtig gemacht haben. Nur gnädiger hätten wir zu uns sein können. Das ist das Einzige, was ich anders machen würde: nachsichtiger sein.  

Du lebst weiter trotz all der Ängste. Und die können übergroß werden. Sie können dich erstarren lassen.

Du lebst weiter trotz all der Ängste. Und die können übergroß werden. Sie können dich erstarren lassen. Wenn der Tod durch deine Wohnung wandelte, wenn du dein totes Kind im Arm gehalten hast, wenn du gesehen hast, wie dein kleines Baby vom Notarzt auf einer Liege aus deiner Wohnung getragen wurde, dann wird die Angst dein ständiger Begleiter. Atmet dein Freund, der neben dir im Bett liegt? Werde ich heute sterben? Wenn meine Mutter nun Corona kriegt, wird sie das nicht überleben. Schaffe ich eine weitere Beerdigung innerhalb von einem Jahr? 

Wie lebt man also weiter? Mit den Schuldgefühlen? Dem Verlust? Wenn ich ruhig werde, spüre ich die Wunde auf meiner Brust. Dort, wo dein Kopf ruhen sollte, dort brennt ein unvergleichlicher Schmerz. Was hilft beim Überleben? Beim Weiterleben? Nachdem du derartig beschädigt wurdest. Weinen hilft. Spazieren gehen. Jemand, der dich weckt am Morgen. Ein stiller Ort. Lesen und Weinen. Am Grab die Hände voller Erde haben. Blumen säen. Sich Zeit geben. Vermissen und wieder weinen. Schreiben. Den Gedanken nachhängen. Licht. In den Himmel starren. Arbeiten. Weinen. Ihren Namen sagen und unsere Geschichte erzählen. Und Liebe! „Liebe mit offenen Händen und offenem Herzen, im Bewusstsein, dass alles sterben wird, was dir gegeben wird.“ Das ist das schwierigste. Weiter zu lieben und vor allem zu hoffen. 

ER

Ich mache heute keine faulen Kompromisse mehr, bin noch radikaler in meinen Ansichten und bin bereit, alles für die richtigen Positionen zu opfern. Was soll mir noch passieren? Mascha hat mich zu einem besseren Menschen, einem besseren Mann gemacht und meine Männlichkeit hinterfragt. Sie hat mich verletzlicher gemacht. In ruhigen Momenten innerlich sensibler und klarer in der Perspektive und im Blick. Perspektiven ändern, bedeutet immer, Systeme in Frage zu stellen. Alles in Frage zu stellen. Ich habe meine Tochter sterben lassen. Ich habe es nicht geschafft, sie zurückzuholen, habe um sie gekämpft und verloren, habe sie selbst mit meinen Armen in diesem wunderschönen Sarg zu Grabe getragen, habe sie alleine mit Erde bedecken dürfen und sie dann mit der Mama aus einer Decke des Blumenmeeres gebettet. Stunden hat die Beerdigung gedauert. So intim. Nur wir. Wir verkraften so viel mehr, als wir uns ausdenken können. Der Schmerz ist manchmal noch so groß, dass ich keine Luft bekomme und Panik in mir aufsteigt, ich anfange zu zittern und der Kommunikation nicht fähig bin. Wenn ein Vater mit seiner Tochter auf Arbeit an mir vorübergeht, ich freundlich das Gespräch suche, das Mädchen lobe und aus der Situation gehe, dann mache ich Atemübungen und hoffe, dass diese die Ohnmacht verdrängen. Die ersten Monate habe ich Babys gemieden, den Laden verlassen oder die Straßenseite gewechselt. Ich hatte seit so vielen Jahren keine Tränen mehr gespürt. Ich dachte, ich kann gar nicht weinen. Bis zum Tod unserer Tochter. Wir sind stark! Aber ich bin auch von sehr vielen Menschen enttäuscht und habe innerlich gebrochen. Angefangen bei meinem Arbeitgeber, der es bis heute nicht einmal zu einer ordentlichen Kondolenz geschafft hat, wo Männer mir sagten, ich solle einfach ein neues Baby machen. Als würde es mich nicht betreffen, als hätte mir niemand etwas weggerissen. Männer haben nicht zu trauern. Wahrscheinlich aus Überforderung. Trauer und Tod darf es in unserer perfekten Welt nicht geben. Mich hat es wütend gemacht, insbesondere diesen Männern gegenüber zu sitzen, sinnlose Beratungen führen zu müssen und kein aufrichtiges Wort für meine wunderschöne Tochter, meine trauernde Frau oder zuletzt für mich zu hören. Mich hat es wütend gemacht, dass Menschen die Schwäche des Schmerzes versuchten auszunutzen, um mich anzugreifen und dann dennoch stark, kühl absolut rational und kalkulierend in meinem Auftreten sein zu müssen. Mein Arbeitgeber hat meiner Situation und meiner Familie keinen Platz eingeräumt. Familie und vermeintliche Freunde, die nicht sahen, dass ich nicht nach Hilfe fragen konnte, aber Beistand und echte Anteilnahme gebraucht hätte. Ich fühlte mich manchmal allein. Aber ich war es nicht. Mein bester Freund war da. Meine Partnerin war da. Die Liebe zu ihr ist sogar nochmal gewachsen. Sie ist so unfassbar stark und stolz. 

Mascha hat mich stabiler und stärker gemacht.

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SIE 

Ich weiß am Ende nicht, ob wir den Tod von Mascha „gut verarbeitet“ haben. Ich bin noch dabei. Ich arbeite mich immer noch an der Trauer ab. Ich glaube aber auch nicht mehr daran, dass dieser Prozess irgendwann abgeschlossen ist. Ich werde die Trauer mein restliches Leben bei mir tragen. Schon allein, weil es das Einzige, das Letzte ist, was mich mit meiner erstgeborenen Tochter verbindet.

Der Tod meiner Tochter wird nie ok sein. Der Tod meiner Tochter wird nie etwas Sinnhaftes haben. Deshalb versuche ich mein restliches Leben, das Leben, das übrig geblieben ist, mit so viel Sinn, wie möglich vollzustopfen. Dies kann üble Auswüchse haben. Sich geschäftig halten, damit der Schmerz einen nicht jeden Tag begegnet, klingt zunächst nicht nach einer guten Verarbeitungspraxis. Aber es fühlt sich nach Leben an. Der Schmerz auch. Aber man sollte viele Leidenschaften haben.

ER

Bei mir ist es ähnlich. Ich arbeite wieder wie vor dem schwarzen Tag leidenschaftlich für die Menschen, über meine Grenzen hinaus, für einkommensarme und vulnerable Menschen, denen es wahrscheinlich immer so geht, wie es mir in diesem Moment ging: nicht gesehen und nicht gehört. Mascha, mein Herz, hat mich Bescheidenheit und noch mal ein Stück Menschlichkeit gelehrt. 

SIE 

Hoffnung tausend Tonnen schwer auf meinem Herz. Kraft suchen, sich den Glauben zurückerobern, dass es das Leben gut mit dir meint. Wenn Regeln außer Kraft gesetzt sind, kannst du nur das nutzen, was gerade vor dir liegt. In dem Bewusstsein, dass wir alle nur kleine Lichtstrahlen im riesigen Zeitverlauf sind, kann man zusehen, wie alles, was man hat, zwischen den Fingern zerrinnt. Also will Mensch etwas Bleibendes schaffen. Mensch will überhaupt etwas schaffen. Etwas das schreit „wir waren hier“. Es gibt nur dieses eine Leben. Bis jetzt hatten wir Glück. Fülle es mit allem, was du brauchst. Und dann musst du auch das Glück suchen. Zum einen in den wenigen Stunden, die ihr gemeinsam hattet, und zum anderen dort, wo du sein wirst. Suche das Glück in allem, was um dich herum ist. Vielleicht findest du etwas, was dich trägt. Etwas, was dein Herz schlagen lässt. Wir haben nur das Hier und das Jetzt.

ER

Das Leid ist die ungewollte Prüfung, der Schmerz ist das Loslassen. Pathetisch. Aber das ist meine persönliche Erkenntnis nach dem Jahr. Der Tod war immer da, gesehen hatten wir ihn nicht. Wir haben als Paar viele magische Momente, die Liebe zu uns, die Momente an den Stränden Tel Avivs, unser Kennenlernen. Kraftreserven. Der magischste Moment ist jedoch die Geburt und die kurze Zeit, die Mascha uns erlaubt hat, sie kennenzulernen. Auch dieser Moment wird uns in Zukunft bei Krisen tragen. Wir können nicht für alle sprechen. Nicht einmal für einige. Nur für uns. Unseren Weg. Es gibt kein falsches oder gar ein lineares Trauern. Auch dass musste ich lernen.

WIR 

Maschallah haben wir immer in der Schwangerschaft und nach der Geburt gerufen. 
Es wird auf ihrem Grabstein stehen. Es bedeutet so viel wie: Was Gott wollte, ist eingetreten. Wenn es denn so einfach wäre … Sie hofft, zu glauben, er glaubte nie. 
In Krisen und Momenten der Trauer sind magische Momente besonders wichtig.   

Dieser Beitrag wurde erstveröffentlicht im Buch „#nichtgesellschaftsfähig – Tod, Verlust, Trauer und das Leben”.