„VERRÜCKT? NA UND!“ – Seelisch fit in der Schule.

Foto: Irrsinnig Menschlich e.V.

von Dr. Manuela Richter-Werling, Irrsinnig Menschlich e.V.

Erwachsenwerden ist eine der spannendsten und zugleich schwierigsten Etappen in unserem Leben. Das erleben Eltern, Lehrer:innen und viele andere Erwachsene jeden Tag aufs Neue.

Es ist die Zeit des Lernens, der Rebellion und der Selbstfindung. Hindernisse und Widerstände gehören dazu. Kein Wunder, dass gerade die Jugendzeit so anfällig für Probleme ist, die die eigenen Lösungsmöglichkeiten übersteigen. Psychische Krisen, Süchte, selbstschädigendes Verhalten oder Kriminalität beginnen in keiner Lebensphase so häufig wie in der Pubertät. Viele junge Menschen brauchen unsere Hilfe, um ihre Probleme besser bewältigen zu können. Sie tun sich schwer mit einer Welt, die sich mit halsbrecherischer Geschwindigkeit verändert. Nicht wenige Kinder und Jugendliche leben in schwierigen Verhältnissen, sie erleben Armut, Gewalt, Krieg, verlieren nahestehende Menschen. Auch wir Erwachsenen tun uns schwer damit: Was erwarten und verlangen wir von unseren Kindern? Was können wir ihnen für die Zukunft mitgeben, damit sie ihr Leben in Zufriedenheit und Optimismus aufbauen können?

Wir von Irrsinnig Menschlich e.V. begeistern seit über 20 Jahren Schulen mit unserem Präventionsprogramm „Verrückt? Na und! Seelisch fit in der Schule“ hierzulande und inzwischen auch in Österreich, Tschechien, in der Slowakei und bald auch in Großbritannien und Polen. Das hätten wir bei unserer Gründung im Jahr 2000 nie für möglich gehalten. 

Damals arbeitete ich noch als Journalistin und dachte, Psychiatrie gleich spannende Menschen, spannende Geschichten. Mich hat schon immer fasziniert, wie viele Menschen es schaffen, schmerzliche, schreckliche, ja lebensbedrohliche Ereignisse zu überstehen und daran offensichtlich noch zu wachsen. Dass meine Leidenschaft für seelisch gutes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen so stark mit meiner Lebensgeschichte verbunden ist, habe ich lange Zeit nicht gemerkt, verdrängt, auch als ich Irrsinnig Menschlich e.V. mitgegründet und „Verrückt? Na und!“ entwickelt habe. Psychische Krisen und Krankheiten gehören zu meiner Herkunftsfamilie, haben eine lange „Tradition“, man gewöhnt sich an fast alles und als Kind wahrscheinlich viel schneller als Erwachsene. Dazu später mehr.    

„Psychische Krisen in der Schule? Wir sind doch nicht die Psychiatrie!“ So hieß es bei unserem Start vor 20 Jahren von vielen Schulleitungen. Doch es gab durchaus Lehrer:innen, die darüber anders dachten. Mit den »Verrückt? Na und!«-Schultagen bringen wir psychische Krisen klassenweise zur Sprache, bauen das Stigma psychischer Erkrankungen ab, machen Mut, vermitteln Lösungswege und fördern Schulerfolg. Dafür gibt es kein Allheilmittel und schnell geht es meistens auch nicht. Dafür braucht es tausend kleine Schritte: Information und Aufklärung, Geduld und Durchhaltevermögen, Humor und Zuversicht, Austausch, Gemeinschaft, Solidarität, Mut und Hoffnung. Im Grunde ist alles ganz einfach. Was für Kinder und Jugendliche seelische Gesundheit ist: Sich wohl zu fühlen mit sich selbst, mit seiner Familie, mit seinen Freunden. Dass man nicht krank ist, gut denken kann. Dass man gern in die Schule geht, sich glücklich fühlt. Woran sie erkennen, dass es Menschen seelisch schlecht geht: Wenn sie sich abschotten oder Drogen nehmen. Wenn sie deprimiert sind oder aggressiv werden. Wenn sie anders sind als sonst: traurig, verschlossen, null Hoffnung. Was Kinder und Jugendliche brauchen, damit es ihnen seelisch gut geht: gute Eltern. Freunde. Vertrauen. Hilfe. Große Familie. Nette Lehrerinnen und Lehrer. Am besten alles zusammen.

Psychische Gesundheit der Bevölkerung zu fördern und psychischen Krisen und Erkrankungen vorzubeugen, lohnt sich: Wohlbefinden, Lebensqualität und Stabilität von Gesellschaften steigen. Kurzum: Psychische Gesundheit verbunden mit einer guten Gemeinschaft, auf die wir in schlechten Zeiten zurückgreifen können, ist die „versteckte Glücksquelle“, die kaum einer auf der Rechnung hat, so Professor Andrew Clark von der Paris School of Economics, Verhaltensökonom und einer der „Top-Happiness-Forscher“ weltweit1. Und das weit vor anderen vermeintlichen Glücksbringern für Lebenszufriedenheit wie Geld, Arbeit, Bildung, Partnerschaft und Kinder.

Dagegen gelten psychische Krankheiten als Unglücksfaktor. Immerhin ist nach Aussagen der WHO jeder dritte Mensch im Verlaufe seines Lebens davon betroffen. Während körperliche Erkrankungen oft erst im späteren Lebensalter zum ernsthaften Problem werden, suchen psychische Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen und Suchterkrankungen Menschen jeden Alters heim: jedoch am stärksten Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Studien weisen nach, dass 75 Prozent aller seelischen Störungen vor dem 20. Lebensjahr beginnen. 20 bis 30 Prozent der Kinder und Jugendlichen gelten als seelisch auffällig; 12,4 Prozent davon sind sozial und familiär stark belastet. Nur wenige bekommen rechtzeitig passende Hilfen. Entwicklungsschritte, wie die Schule zu schaffen und den Übergang in Ausbildung und Beruf, die eigene Identität zu finden, Liebe, Partnerschaft, eine Familie zu gründen etc., sind oft beeinträchtigt. Die Folgen: großes persönliches Leid wie Abhängigkeit von Sozialsystemen, Straffälligkeit, hohes Suizidrisiko, Frühverrentung und immense gesellschaftliche Kosten. Die belaufen sich bei seelischen Erkrankungen auf 44,4 Milliarden Euro direkte Kosten2. Oft sind immer wieder dieselben Menschen betroffen – lebenslang3. Deshalb müssen psychische Probleme bei jungen Menschen früher erkannt, erfolgreicher vermieden, angemessen behandelt und besser bewältigt werden.

Was Mitschüler und Lehrer freilich nicht wussten: Mit welcher Energie mein Bruder die „perfekte Maske“ jeden Tag aufrechterhalten hat.

Was ich hier im Großen beschrieben habe, konnten, mussten, durften wir als Familie „testen“: Mutter, Vater, drei Kinder, ein Junge, zwei Mädchen. Mein großer Bruder, 13 Monate älter als ich, war in meiner Erinnerung schon immer auffällig: zu klein, zu dünn, kränklich, immer neue „Macken“ von mondsüchtig über zwanghaft Hände waschen und Dinge ordnen bis zu großer Ängstlichkeit und starken Schlafstörungen. Die Erwachsenen sprachen oft über ihn und machten sich viele Gedanken, weil er keine Freunde hatte. Er sei eben ein „Eigenbrötler“, aber auch der „Stammhalter“ und sollte etwas werden. Ich, die wenig jüngere Schwester, galt dagegen als zu groß, zu dick, „handzahm“, die unauffällig ihr Ding macht und meine sechs Jahre jüngere Schwester als Sonnenschein. Eine ganz normale Familie eben. Jeder hat seinen Platz. In der Pubertät verstärkten sich die Eigenheiten meines Bruders. Heute würde man sagen: Depressionen, Ängste und Zwänge. In der Schule, wir gingen zwölf Jahre zusammen in eine Klasse, war mein Bruder gut, sozial angepasst, wenngleich sehr zurückhaltend, gute und sehr gute Noten. Was Mitschüler und Lehrer freilich nicht wussten: Mit welcher Energie mein Bruder die „perfekte Maske“ jeden Tag aufrechterhalten hat. Machte ich z. B. eine Stunde Hausaufgaben, saß mein Bruder bis Mitternacht, kam früh kaum aus dem Bett und erreichte in letzter Minute schweiß- und angstgebadet die Schule. Wahrscheinlich könnte man mit dieser Energie ganze Städte beheizen. Ohne, dass wir es als Familie bemerkten, fing er an, sich selbst zu medikamentieren, so heißt das Fachwort. Alkohol, Tabletten, alles, was es gab zum „Aufputschen“ und Runterkommen. Dazu kamen Suizidgedanken. Keiner hat es gemerkt und darüber gesprochen, obwohl im Nachhinein vieles auffällig und komisch war. Später galt mein Bruder als von Alkohol und Tabletten abhängig, an Depressionen, Zwängen und Ängsten erkrankt, hatte etliche Klinikaufenthalte und ambulante Therapien. Meine Eltern haben sich in Angehörigengruppen engagiert, vielen anderen Eltern geholfen und natürlich immer wieder ihrem Sohn. Mit 56 hat er sich suizidiert. Noch immer streiten sich meine hochbetagten Eltern, welche Familie an der tragischen Entwicklung meines Bruders „schuld“ sei: die mütterliche oder väterliche … Ich bin mir ziemlich sicher, wenn es damals schon das von uns entwickelte und verbreitete Präventionsprogramm „Verrückt? Na und!“ gegeben hätte, wäre mein Bruder möglicherweise noch am Leben, weil er gehört hätte, dass er nicht allein mit seinen komischen Gedanken ist, dass man darüber sprechen darf, dass es Hilfe gibt, dass es normal ist. Später kam raus, dass die Depression in unserer Familie liegt wie bei anderen Familien Magengeschwüre oder Diabetes.  

Seelische Krisen sind normal, haben „gute“ Gründe und gehören zum Aufwachsen. Häufig verbergen sie sich hinter Problemen wie Drogen, Alkohol, Mobbing, Gewalt, Schulabstinenz, Schulabbruch und suizidalem Verhalten. Seelische Krisen beeinträchtigen das Klassenklima, den Schulerfolg und werden oft zuerst von Lehrkräften erkannt. Die meisten Menschen überstehen seelische Krisen und wachsen daran! Das ist die gute Botschaft. Die schlechte ist, dass seelische Krisen und Erkrankungen mit Ängsten, Vorurteilen und Stigmata behaftet sind, weil sie den ganzen Menschen betreffen: sein Denken, Fühlen und Verhalten. Deshalb haben viele Menschen Angst, darüber zu sprechen und sich rechtzeitig Hilfe zu suchen. Sie befürchten, als verrückt abgestempelt zu werden, dass andere davon erfahren und Gerüchte darüber verbreiten, dass sie Medikamente nehmen müssen und in eine Klinik eingewiesen werden. Sie haben Angst, nichts mehr wert zu sein, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden! Um Stigmatisierung und Ängsten entgegenzuwirken, empfiehlt die Forschung eine Kombination aus Information, Aufklärung und Austausch mit Menschen, die psychische Krisen gemeistert haben. Dieser Strategie folgen wir mit „Verrückt? Na und!“. 

Die Schule ist der ideale Ort, um sich über Lebensfragen auszutauschen, weil junge Menschen den größten Teil ihrer aktiven Zeit dort verbringen. Das bedeutet, Schutzfaktoren für gutes Aufwachsen zu stärken und Risikofaktoren zu minimieren. Dazu gehört der Umgang mit seelischen Krisen und Nöten, der in guten Zeiten, d. h. präventiv, geübt werden sollte. Es lohnt sich, mit seelischer Gesundheit gute Schule zu machen, denn gute Stimmung in der Schule kann eine ganze Menge Schwierigkeiten beim Erwachsenwerden verringern.

Angenommen, die „Verrückt? Na und!“-Schultage hätte es schon damals gegeben, was mein Bruder, seine Klassenkameraden und ich erlebt hätten. Wir sind in der neunten Klasse. 

Illustration: Schwarwel 
aus dem Film „Leipzig von oben – vom Leben und Sterben“ 

Bernd, mein Bruder, schläft seit Wochen schlecht, zweifelt an sich selbst und kann sich in der Schule kaum noch konzentrieren. Dennoch setzt er ein „cooles“ Gesicht auf, damit keiner etwas merkt, ihn anspricht und gar schlecht über ihn redet. Bernd weiß selbst nicht genau, was mit ihm los ist, geschweige denn, ob und mit wem er darüber sprechen kann. Frau Arnold, Bernds Klassenlehrerin, merkt, dass sich Bernd immer mehr zurückzieht. Sie macht sich Sorgen und möchte helfen, aber wie? Denn da sind noch 26 andere Schüler in der Klasse mit ihren täglichen Fragen, Sorgen und Nöten. Außerdem ist sich Frau Arnold unsicher, wie sie Bernd ansprechen soll, seine Schwester traut sie sich auch nicht zu fragen. Über die natürlichsten Sachen der Welt zu reden, falle Lehrkräften manchmal schwer. Und seelische Notlagen gehören dazu. Da brauche es Unterstützer von außen, die den ersten Schritt mit Lehrkräften gehen. So oder so ähnlich hören wir das immer wieder, wenn wir in den Schulen unterwegs sind. Da hilft der „Verrückt? Na und!“-Schultag für Jugendliche ab Klassenstufe 8. Wir laden klassenweise ein zu einem Gespräch über die großen und kleinen Fragen zur seelischen Gesundheit. Dass die Klassenlehrkräfte dabei sind – ist selbstverständlich. Der „Verrückt? Na und!“-Schultag ist für Bernd und seine Klasse anders als ein gewöhnlicher Schultag. Gestaltet wird er von einem besonderen Team aus zwei Menschen, die beruflich und/oder persönlich Erfahrungen mit seelischen Krisen und Krankheiten haben und wie man diese meistern kann. Beide arbeiten auf Augenhöhe als „Verrückt? Na und!“-Tandem. 

Gemeinsam öffnen sie die Herzen von Bernds Klasse, geben Hoffnung und machen psychische Krisen besprechbar. Das bedeutet: Seelische Krisen und Erkrankungen verstehen zu lernen, Ängste und Vorurteile abzubauen, Zuversicht und Lösungswege in Krisen zu vermitteln und Wohlbefinden in der Klasse zu fördern. Bernds Klasse lernt Warnsignale seelischer Krisen kennen, diskutiert jugendtypische Bewältigungsstrategien, hinterfragt Ängste und Vorurteile gegenüber seelischen Krisen, erfährt, wer und was helfen kann, findet heraus, was die Seele stärkt und begegnet Menschen, die seelische Krisen gemeistert haben. 

Bekanntlich ist der Austausch mit Menschen, die vergleichbare Situationen bereits gemeistert haben, eine der besten Arten zu lernen, wie Probleme bewältigt werden können. 

Der „Verrückt? Na und!“-Schultag  besteht aus drei Schritten:  

1. Schritt: Ansprechen statt Ignorieren

Ziel ist es, die Klasse für seelisches Wohlbefinden und seelische Gesundheit wachzumachen. Ausgangspunkt sind die Erfahrungen von Bernd und seinen Mitschüler:innen. Was macht sie stark? Was schlägt ihnen auf die Seele? Wieso ist es so schwer, darüber zu sprechen? Häufige Schüler-Themen sind Leistungsdruck, Mobbing, Trennung der Eltern, Süchte, Medienkonsum, Zukunftsängste sowie seelische Erkrankungen in der Familie und im Freundeskreis. 

2. Schritt: Glück und Krisen. Von Lebensschicksalen und eigener Verantwortung  

Jeder Mensch hat seine eigenen Vorstellungen vom Leben. Glück, Zufriedenheit und Krisen gehören dazu. Oft lenken Krisen das Leben in neue Bahnen. Und nicht wenige Menschen gehen gestärkt aus Krisen hervor. In Gruppen beschäftigt sich Bernds Klasse mit Aufgaben wie z. B. „Sich in Krisen zu helfen wissen“, „Wie Körper und Seele zusammenhängen“, „Wie wir Vorurteile und Ängste überwinden können“ oder „Neue Medien: Fluch oder Segen für die Psyche?“. 

3. Schritt: Mut machen, Durchhalten, Wellen schlagen – Erfahrungsaustausch mit Menschen, die seelische Krisen gemeistert haben 

Jetzt „outet“ sich Anna, die persönliche Expertin. Das ist für Bernd und seine Mitschüler:innen ein AHA-Erlebnis! Sie hätten nie gedacht, dass ausgerechnet diese junge Frau psychisch krank war. Anna knüpft an dem bisher Gesagten an, erzählt, wie es ihr ging, als sie so alt war wie Bernd und seine Mitschüler. Nach wenigen Minuten lädt sie die Klasse ein, sie zu „löchern“, d. h. ihr Fragen zu ihrem Leben, zu ihrer Geschichte zu stellen. Das ist der wohl spannendste Teil des Schultages: Das komplexe Konstrukt „psychische Gesundheit“ bekommt nun ein konkretes Gesicht: überraschend, verrückt, ganz normal. Was persönliche Expert:innen wie Anna Bernds Klasse mitgeben: „Wenn es dir nicht gut geht, sprich darüber mit Personen deines Vertrauens! Hol dir rechtzeitig Hilfe, damit du die Kontrolle über dein Leben behältst! Glaube an dich und habe Geduld mit dir. Es wird wieder besser!“ 

Anna, eine der über 300 persönlichen Expert:innen von „Verrückt? Na und!“, spricht darüber, wie sich ihre Depression und Magersucht anfühlt, wo sie Hilfe bekommt und wie wichtig es ist, gute Freunde zu haben und zwar nicht nur in guten Zeiten, sondern auch dafür, gemeinsam Probleme zu meistern. Und Bernd und seine Mitschüler:innen dürfen Anna an diesem Schultag sehr persönliche Fragen stellen. Bernd erzählt von sich und seinem Gefühlschaos. Seine Schwester von dem Chaos, was sie mit ihrem Bruder und in der Familie erlebt. Zwei Mitschüler kennen Ähnliches aus ihren Familien. Und Frau Arnold, die Klassenlehrerin, erinnert sich, dass sie während ihres Studiums tief in einer seelische Krise steckte und Gott sei Dank Hilfe bekommen hat. Die Klasse ist erstaunt und berührt von dem, was Bernd und die anderen schon durchgemacht haben. Gemeinsam wollen sie mehr aufeinander achten und nicht so schnell Menschen verurteilen, nur weil sie sich anders verhalten. Bernd und seine Klasse konnten sich an diesem Tag öffnen und ihre Lebenserfahrungen teilen. Besonders wirksam ist der Austausch mit persönlichen Expert:innen wie an diesem Tag mit Anna. Bernd und seine Klasse werden diesen Tag nicht so schnell vergessen. Immer dann, wenn sie in ihrem späteren Leben in schwierige Lebenssituationen kommen, werden sie sich an die Mut machenden Lebensgeschichten der persönlichen Expert:innen erinnern. 

Die „Verrückt? Na und!“-Schultage wirken: Sie verändern Einstellungen und bestenfalls Verhalten, besonders frühes Hilfesuchen. Das haben mehrere Evaluationen nachgewiesen: 96% der Schüler:innen sagen von sich, sie hätten jetzt mehr Wissen über seelische Gesundheit, 75% sehen die persönlichen Expert:innen als Vorbild für die Bewältigung eigener Krisen im späteren Leben, 74% meinen, Krisen jetzt besser bewältigen zu können. 

Generell wünschen sich Schüler:innen, dass in der Schule mehr über Hilfen im Falle psychischer Krisen gesprochen wird und dass die Klassenlehrkräfte die ersten Ansprechpartner dafür in der Schule seien. Das verstehen wir als deutlichen Auftrag an uns, nicht nachzulassen, denn wir stehen noch ganz am Anfang. Bildung und Gesundheit sind strukturell getrennt. Mit seelischer Gesundheit gute Schule zu machen, ist da kaum möglich. Wir tun es trotzdem aus guten Gründen, weil wir selbst erkrankt sind oder es waren, weil wir Angehörige von psychisch kranken Müttern, Vätern, Geschwistern, Großeltern sind, weil wir jungen Menschen ein gutes Leben ermöglichen wollen, weil wir wissen, dass es jeden treffen kann, weil uns die Schüler:innen antreiben, weil wir verrückt und irrsinnig menschlich sind. 

Dafür haben wir viele Preise und Qualitätssiegel bekommen, u. a. steht „Verrückt? Na und!“ auf der Grünen Liste Prävention – CTC-Datenbank Deutschland für empfohlene Präventionsprogramme. Als Gründerin und Initiatorin wurde ich in Ashoka aufgenommen. Ashoka ist das globale Netzwerk für Gestalter:innen unserer Gesellschaft, die mit unternehmerischer Haltung und innovativen Ansätzen antreten, soziale Probleme zu lösen – in partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit Institutionen und Engagierten weltweit. Ashoka und McKinsey & Company haben 2019 die Studie „Wenn aus klein systemisch wird. Das Milliardenpotential sozialer Interventionen“ publiziert. Darin wird  „Verrückt? Na und!“ ein „Riesenpotenzial“ bescheinigt: 80 Millionen Euro weniger Folgekosten für jeden Prozentpunkt an erkrankten Schüler:innen, die sich in einem Jahrgang aufgrund der Teilnahme am Programm zusätzlich in frühzeitige Behandlung begeben4. Kleiner Aufwand – große Wirkung.  

Lasst uns die Glücksquelle psychisches Wohlbefinden gemeinsam zum Sprudeln bringen und solidarisch verbunden mit allen kleinen und großen Menschen sein. Gemeinsam haben wir die Kraft, Krisen zu überwinden und daran zu wachsen.  

Dieser Text wurde erstveröffentlicht im Buch „Nicht gesellschaftsfähig – Alltag mit psychischen Belastungen“.