DUNKELHEIT AM RANDE DER STADT

Meine jahrzehntelange Beziehung zu Bruce Springsteen und was sie mich über das Leben lehrte

Foto: privat

von Michael Kraske

Die intuitive Verschmelzung mit einem Lebensgefühl hat Bruce Springsteen in seiner Hymne „No Surrender“ in einer einzigen Textzeile verewigt: „We learned more from a three minute record, baby, than we ever learned in school“. Nun, um mir eine Ahnung davon zu geben, wer ich bin und sein will, reichten sogar zwei Minuten und 37 Sekunden aus. Das war im Jahr 1985, ich war 13 Jahre alt und hörte im Radio zum ersten Mal „I’m On Fire“. Wobei ich als 13-Jähriger ganz sicher nichts von der sexuell getränkten Sehnsucht verstand, über die er in seiner Hit-Single sang. Darum ging es auch gar nicht. Es war diese Mischung aus Gefühl und Coolness in seiner Stimme. Jenes zärtliche Geheul, das sich am viel zu schnellen Ende über die lässigen Drums und eine gezupfte Gitarre legt, traf nicht nur einen Nerv, sondern wurde zur Verheißung meiner Wünsche und Träume.

Meine kindlichen Fantasiewelten hatten Robin Hood, diverse Ritter und Old Shatterhand bewohnt, begleitet von dem Traum, als Spielmacher mit der Nummer 10 auf dem Rücken in einem ausverkauften Fußball-Stadion den perfekten Pass oder den spektakulärsten Fallrückzieher zu zeigen. In meinem verschlafenen Stadtteil in Sichtweite zu einem kleinen Waldgebiet hatte ich Verstecken gespielt, Buden gebaut und Bolzplätze heimgesucht. Nun entdeckte ich den Rock and Roll, oder vielmehr entdeckte er mich. Das bedarf übrigens einer Erklärung. Denn unter diesem Label firmiert von der unsterblichen Coolness von Elvis bis zu dem boshaften Firlefanz von Rammstein mittlerweile alles Mögliche, das mitunter wenig bis gar nichts miteinander zu tun hat.

Mitte der 1980er Jahre wurden um mich herum Jackets hochgekrempelt und Haare gegelt. Die Mädchen versuchten, wie Kim Wilde auszusehen, und aus dem Radio waberte Synthi-Pop, der entweder zuckersüß klang wie Nick Kershaw oder verstörend bescheuert wie Modern Talking. Währenddessen igelte ich mich in meinem holzvertäfelten Kellerzimmer ein und legte wieder und wieder „Born In The USA“ von Bruce Springsteen auf den Plattenteller. Ich betrachtete den legendären Jeans-Hintern vor der Stars and Stripes-Flagge auf dem Plattencover und lauschte den hymnischen Sounds über Highways und verlorene Liebe, aber auch über die Rückkehr eines Vietnam-Veteranen im Titelsong sowie eines Vaters, der mit dem Sohn herumfährt und ihm dabei seine sterbende Heimatstadt zeigt, wo Jobs verlorengehen, die nicht wiederkommen werden. Egal, ob es der verlassene Liebhaber aus „Downbound Train“ oder der freiheitsliebende Jugendliche aus „No Surrender“ war, der von seiner Schwester gerufen wird, nach Hause zu kommen – immer schwang Leidenschaft, Wehmut und Sehnsucht mit. Ein stolzer Heroismus, der meiner nur zögerlich schwindenden kindlichen Schüchternheit zurief: Steh zu deinen Gefühlen. Schluss mit dem Versteckspiel. Meine Schwester zog mich mit den vermeintlich plumpen Botschaften über Autos und Straßen auf. Aber da war meine Selbstfindung schon so unerschütterlich vorangeschritten, dass mir die Häme der Älteren nichts mehr anhaben konnte. Denn in den Geschichten der Straßen und Hinterhöfe öffnete sich mir ein ganzes Universum.

Kaum hatte ich verinnerlicht, über jeden gescheiterten Versuch im Leben ein Gitarrenriff und ein kehliges „Shalalala“ oder „Leileilei“ legen zu können, legte ich nach und kaufte mir für 9 Mark 90 mein zweites Album von Bruce, auf dessen Cover er mit einem trostlosen Zimmer als Kulisse und der eigenen trostlosen Mine zu purer Tristesse verschmilzt. „Darkness On The Edge Of Town“ traf mich wie ein Schlag. Eine existentialistische Offenbarung und zugleich der Blick in den Abgrund. Auf „Darkness“ kreischen die Gitarren und stampfen die Drums. Die Orgeln heulen und das Piano weint. Es geht um Scheitern und den Mut der Verzweiflung. Keine romantischen Roadmovies, dafür trotzige Bekenntnisse und bittere Wahrheiten: Sobald du etwas hast, schicken sie jemanden, um es dir wegzunehmen („Something In The Night“). Der Arme möchte reich sein. Der Reiche möchte König sein. Und der König ist nicht eher zufrieden, bis er alles beherrscht. Der singende Anti-Held aus „Badlands“, dem größten Song aller Zeiten, will raus gehen, um herauszufinden, wo er im Leben steht und was er erreicht hat. Alles, was wichtig ist, findet sich dem „Darkness“-Titelsong zufolge schließlich auf diesem Berg, den es zu besteigen gilt. Eine Metapher für die Mühen des Lebens, die nie aufhören werden. Genau wie die Suche nach Erleuchtung in der Dunkelheit am Rande der Stadt. Du wartest auf den einen Moment, der einfach nicht kommen wird, gab mir Bruce mit auf den Weg: Nun, verschwende deine Zeit nicht mit Warten!

Also ging ich raus und es war nicht so, dass mich die Rock and Roll-Weisheiten außerhalb meiner Reihenhaus-Idylle vor irgendetwas bewahren konnten. Nicht vor dem Liebeskummer, als die schönen Mädchen auf den ersten Partys, die wir „Feten“ nannten, die großen und völlig falschen Jungs küssten, die statt Fußball lieber Tennis spielten. Nicht vor der jugendlichen Sinnsuche zwischen Hermann Hesses Siddharta, bierseliger Melancholie nach langen Nächten mit den Jungs in der Stadt und auch nicht vor dem eigenen Pathos der nihilistischen Gedichte, die ich nach meinen einsamen Heimmärschen am Wohnzimmertisch mit heiligem Furor verfasste. Aber von Bruce lernte ich einen Blick auf die Welt, der das Glück und Elend der kleinen, alltäglichen Dinge wahrnimmt und daraus raue Poesie formt. Das Unverständnis und die Sprachlosigkeit mit seinem Vater. Die permanente Sehnsucht, der Enge der Kleinstadt zu entkommen. Auf einer gefühlsmäßigen Ebene lernte ich, zwei scheinbar unvereinbare Persönlichkeiten in mir miteinander zu versöhnen: den ausgelassenen Spaßvogel, der andere zum Lachen bringen kann, und den stillen, melancholischen Träumer. Genau diese beiden Pole fand ich in seiner Musik. Den aufgedrehten, unbekümmerten Spaß in „Ramrod“ oder „Cadillac Ranch“ und die Einsamkeit und Traurigkeit von „Streets Of Fire“ und „Racing In The Street“. 

Bruce selbst hat diese scheinbar widersprüchlichen Teile der eigenen Persönlichkeit in „Two Faces“ beschrieben: „One that laughs, one that cries, one says hello, one says goddbye. One does things, I don’t understand. Makes me feel like half a man.“  Erst viel später, durch seine Autobiographie „Born to Run“ habe ich erfahren, dass Bruce, diese Ikone der Rockmusik, die ganze Stadien in Aufruhr versetzen und zu Tränen rühren kann, nicht bloß ein fröhliches und ein trauriges Gesicht besitzt. Sondern dass er phasenweise unter schweren, alles erdrückenden Depressionen leidet. Dass er ausgerechnet oder vielleicht auch bezeichnenderweise auf dem ultimativen Höhepunkt seiner Karriere einen erschütternden Zusammenbruch hatte. Mit „Born In The USA“ stieg er zu einem überlebensgroßen Weltstar auf. Aus dem schmächtigen Jungen aus New Jersey war ein muskulöser Held mit Jeansweste und Stirnband geworden, dessen ikonisches Bild auf dem ganzen Erdball so bekannt war wie sonst nur das von Madonna, Prince und Bono von U2. Er hätte endgültig abheben können. Stattdessen schlug er hart auf dem Boden auf. Als nichts mehr ging, begann er die erste Therapie seines Lebens. In seiner Autobiographie beschreibt er den lebenslangen Kampf gegen die Depression, der ihn zwischendurch lahmlegt und immer wieder große Anstrengungen erfordert, einen Weg aus Isolation und Passivität zu finden. In schonungsloser Offenheit schildert er, wie in den depressiven Episoden alle Lebensbereiche erschüttert werden: Liebe, Sex, Familie, auch die Musik. Er beschreibt auch, wie er lernte, sich mit eigenen Lebenslügen und Schwächen auseinanderzusetzen, gerade auch in seinen Beziehungen zu Frauen. Bis er sich eingestand, dass er gut darin war, unterwegs zu sein, aber große Angst davor hatte, anzukommen und zu bleiben. Seiner zweiten Frau Patti, die er zuvor in die E Street Band aufgenommen hatte, gelang es, ihn mit seinen eingeschliffenen Mustern und Vermeidungsstrategien zu konfrontieren, bis er bereit war, in der Partnerschaft Verantwortung zu übernehmen. Mit Patti gründete er eine Familie und zog in seiner alten Heimat New Jersey, die er zwischenzeitlich gegen das coole Los Angeles eingetauscht hatte, auf eine Ranch, wo er mittlerweile im eigenen Tonstudio viele seiner Songs aufnimmt.  

Bruce Springsteen ist trotz seiner Zerrissenheiten und Richtungswechsel bei sich geblieben und hat stets zurückgefunden. Nachdem er in seinen rastlosen Jahren als Mega-Star das verlockende Angebot abgelehnt hatte, für eine Zeitlang in die Playboy Mansion einzuziehen, wie er in einer launigen Anekdote verriet. Ihm, dem Arbeitersohn, kam das dekadente Leben mit den Playmates falsch vor. Also entschied er sich gegen eine WG mit Miss September, Miss Juni und Hugh Hefner. Stattdessen tauchte er in den „Tunnel Of Love“ ab, wie jenes Album heißt, in dem er – offenkundig inspiriert von seiner gescheiterten ersten Ehe mit der Schauspielerin Julianne Phillips – über Verlogenheiten, Selbstbetrug und das Scheitern in der Liebe sang – desillusioniert, verletzlich und tieftraurig. 

Seine schonungslosen Eingeständnisse amouröser Verstellung („Brilliant Disguise“) und trotziger Liebesschwüre („Tougher Than The Rest“) begleiteten mich durch meinen eigenen Liebestunnel, in dessen langen und verwinkelten Röhren ich meine Jugendliebe verlor, die Liebe fortan kam und ging, bis sie bei der einen blieb, die alles war: beste Freundin und Geliebte. Bei der auch ich bleiben konnte. Hätte ich die Poesie von Bruce beherzigt – ich wäre möglicherweise besser darauf vorbereitet gewesen, dass menschliche Beziehungen sehr viel weniger als erwartet in Schwarz und Weiß verlaufen, sondern in den verschiedensten Grautönen, die es so schwer machen, zwischen Richtig und Falsch zu unterscheiden und über Bleiben oder Gehen zu entscheiden. 

Illustration: Schwarwel

Als meine Mutter ins Koma fiel, aus dem sie nicht mehr aufwachte, war ich gerade im Aufbruch. Längst war ich aus dem heimischen Reihenhaus in Iserlohn nach Leipzig gezogen, das mir zur neuen Heimat wurde. Ich hatte Politikwissenschaft und Neuere Geschichte studiert, die Hamburger Journalistenschule absolviert und war jetzt als freier Reporter unterwegs. Ich lebte das Leben, das ich mir erträumt hatte. Der Anruf meiner Schwester erreichte mich in Chisinau, der Hauptstadt der Republik Moldau, wo ich gerade für eine Magazin-Geschichte recherchierte. Ich nahm den nächsten möglichen Flieger zurück, konnte aber nur noch am Krankenbett die Hand meiner Mutter halten und Abschied nehmen. Es war, als würde unserer Familie buchstäblich das Herz herausgerissen. Alle gerieten ins Taumeln, mein Vater am meisten und die Statik unserer Familie war von jetzt auf gleich zerstört, als habe jemand die tragende Säule aus einem Haus gesprengt. Wir versuchten zusammenzurücken, reisten gemeinsam in den Geburtsort meiner Mutter und ans Meer, aber in die Trauer mischten sich Wut und Verzweiflung, die wir wechselseitig zu spüren bekamen, so sehr wir uns auch bemühten, uns gegenseitig Halt zu geben. Unser altes Zuhause in Iserlohn war nun merkwürdig leer, aber voll schmerzhafter Erinnerungen an die gemeinsame Zeit, die unwiederbringlich abgelaufen war. Die Stille, die sich ohne Mamas Lachen und ihre liebevolle Stimme ausbreitete, war unerträglich. Kein Weihnachten war danach wie zuvor, kein Besuch im Elternhaus, in dem mein Vater umgeben von gerahmten Bildern einer glücklichen Vergangenheit verzweifelt versuchte, nicht unterzugehen. 

Wir waren nicht gut darin, gemeinsam zu trauern, und wenn einem von uns bei einem Treffen oder am Telefon die Stimme versagte, verstummte die oder der andere daneben, bis die Welle der Trauer über uns hinweggeschwappt war. Es ist eine dieser denkwürdigen Gleichzeitigkeiten des Lebens, dass Bruce Springsteen mitten in meiner großen Trauer ebenfalls mit Tod und Verlust beschäftigt war. Der Legende nach war es kurz nach den Terroranschlägen von 9/11, als ein Auto neben Bruce hielt, der Fahrer die Scheibe runterließ und ihm zurief: „We need ya“. Hätte ich ihn seinerzeit getroffen, hätte ich ihm wohl auch so etwas zugerufen wie: Bruce, ich brauch dich jetzt. Der hatte in den 1990er Jahren kaum noch Musik veröffentlicht. Die erhoffte Neuausrichtung endete in diversen kreativen Sackgassen. Nun nahm er wieder mit seiner legendären E Street Band, von der er sich Jahre zuvor getrennt hatte, um künftig als Solo-Musiker andere Wege zu gehen, neue Songs auf. Sieben Jahre nach seinem letzten regulären Album veröffentlichte er schließlich „The Rising“. Das Album gilt bis heute als heilsame Ode an die verwundete amerikanische Seele nach 9/11. Für mich ist es aber viel mehr: ein persönlicher Trauergesang, der mir – als ich nicht wusste, wie es ohne Mama weitergehen soll – zurief: „Come on, rise up!“ Steh auf. 

Als Bruce mit der E Street Band während der Rising-Tour nach Deutschland kam, lud ich meine Schwester auf das Konzert im Hamburger Volksparkstadion ein. Da standen wir dann dicht gedrängt mit tausenden Tramps im Innenraum und Bruce sang nur für uns beide „Empty Sky“ und „You´re Missing“. In dieser Ballade erzählt er von den alltäglichen Verrichtungen einer Familie, die einfach weitergehen. Nur eben, dass der eine geliebte Mensch fehlt. Wenn es dunkel wird, wenn die Sonne wieder aufgeht. Du fehlst! Du fehlst. Meine Schwester und ich richteten an diesem Abend in Hamburg unsere feuchten Augen nach oben und der Himmel war so leer, wie er nur sein kann. Seither sind Konzertbesuche der E Street Band für mich nicht einfach nur das Erlebnis der besten Rock Show auf diesem Planeten, wie das Branchenmagazin Billboard schrieb. Vielmehr sind diese Konzerte immer auch heilige Messe und Pilgerreise, bei der Mama von oben zusieht und vielleicht summt sie ja die Melodien mit, wer weiß.

Nun begleitet mich seine Musik schon seit mehr als drei Jahrzehnten. Ich wiederum begleite seinen Werdegang wie ein Besessener. Spotify teilte mir Ende vergangenen Jahres mit, dass ich zu den 0,0001 Prozent der Menschheit gehöre, die am häufigsten Bruce Springsteen hören. Weltweit. Ja, das ist ziemlich verrückt, ich gebe es zu. Aber ich finde, dass es schlimmere Obsessionen gibt. Ich bin jedenfalls dankbar dafür, dass ich nicht einer schaumspritzenden Penis-Kanone verfallen bin, sondern einem amerikanischen Träumer und Albträumer. Einem, der mir die Sehnsucht nach einem „Promised Land“ eingepflanzt hat, den „Ghost Of Tom Joad“ gegen Ungerechtigkeit und unerträgliche gesellschaftliche Zustände (die Figur des Tom Joad hat Bruce aus John Steinbecks Roman „Früchte des Zorns“ wiederaufleben lassen) – und nicht zuletzt die Lust auf Geschichten mit dem „Human Touch“. Auf die großen kleinen Geschichten, um genau zu sein. „Stolen Car“, einer der traurigsten Songs, die ich kenne, erzählt beispielsweise von einer unmerklich erkalteten Liebe. Sie erzählt ihm, dass sie noch einmal die Briefe aus jener frühen Zeit gelesen hat, als ihre Liebe noch jung und eindeutig war. Als sie nachts diese Briefe las, habe sie sich gefühlt, als wäre sie hundert Jahre alt. Er hingegen fährt in einem gestohlenen Wagen herum, um erwischt zu werden, damit alles endlich ein Ende hat. Was aber nie passiert. Also fährt er weiter, begleitet von der Furcht, sich in der Dunkelheit zu verlieren. Die Kult-Ballade „The River“ wiederum handelt von einer Jugendliebe in einem Tal, wo sie dich dazu bringen, genauso zu werden wie dein Vater. Ein junges Paar, das männliche Ich und seine Freundin Mary, werden viel zu früh schwanger. Zum 19. Geburtstag kriegt er dann einen Gewerkschaftsausweis und einen Hochzeitsanzug geschenkt. Unter diesem Druck sozialer Kontrolle und Vorbestimmung zerbricht ihre Liebe. Danach verhält sich das lyrische Ich so, als würde es sich an nichts erinnern – und Mary (ja, sie heißt tatsächlich oft Mary bei Bruce) tut so, als sei ihr das egal. „Is a dream a lie if it don’t come true or is it something worse“, heißt es in einer seiner größten Schlusszeilen am Ende von „The River“. Sind Träume, die nicht wahr werden, eine Lüge oder sogar noch schlimmer? Das habe ich mich oft gefragt. 

Die großen Worte und Wahrheiten am Ende seiner Songs stehen dafür, dass in diesen ganz normalen Leben, Lieben und kleinen bis mittleren Katastrophen eine Bedeutung steckt. Eine Lehre. So hart diese auch sein mag. Lange habe ich mir das gar nicht klar gemacht, aber Bruce und seine musikalischen Miniaturen und ausufernden Epen haben mich ganz sicher ermutigt, ebenfalls wahrhaftige Geschichten zu erzählen, egal ob in Reportagen oder meinen Romanen. Immer wieder auch gegen Rückschläge und Widerstände. Denn auch darin hat er mich bestärkt: Glauben, Zuversicht, Hoffnung. Nie aufzugeben, auch wenn alles noch so aussichtslos erscheint. Oder wie er es am Ende seines ultimativen Klassikers herausschreit: „Someday, girl, I don’t know when, we’re gonna get to that place, where we really wanna go and we’ll walk in the sun. But till then tramps like us, baby we were born to run.“ Ja, irgendwann laufen wir der Sonne entgegen, aber bis dahin ist es unser Schicksal, unterwegs zu sein und einfach weiterzumachen. 

Ich habe das unwahrscheinliche Glück, dass Bruce auch als Über-Siebzigjähriger immer noch unterwegs ist. Dass er sich nicht zur Ruhe gesetzt hat. In der Pandemie hat er die alternden Jungs seiner E Street Band in seinem Home-Studio in New Jersey versammelt und ein grandioses Album über die Vergänglichkeit aufgenommen: „Letter To You“. Mit „Ghosts“ hat er der magischen Kraft des Rock and Roll noch einmal ein musikalisches Denkmal gesetzt. Einer der berührendsten Songs, „Last Man Standing“, handelt von seiner allerersten Rockband, den Castiles. In Konzerten hat Bruce erzählt, bevor er den Song dann mit zerbrechlicher Stimme ganz allein zur akustischen Gitarre interpretiert, wie er am Sterbebett von seinem Freund und Bandmitglied seiner Jugend-Band, George Theiss, Abschied nahm. Nach dessen Tod ist Bruce nunmehr der letzte Überlebende der Castiles: eben der last man standing. Durch diesen verstorbenen Freund habe er gelernt, so Bruce in seiner kleinen Trauerrede vor den Fans in den Stadien, dass man wirklich jeden Moment so intensiv wie möglich leben sollte. Und dass man gut sein soll – zu anderen, aber eben auch zu sich selbst. Das mag für andere pathetisch klingen. Für mich ist es heilsam und zutiefst tröstlich. Ein überzeugendes Lebensmotto, auch wenn es nicht jeden Tag gelingt, danach zu leben. Das Album endet damit, dass ihm ein geliebter, verstorbener Mensch im Traum begegnet, wenn alle gemeinsamen Sommer längst Vergangenheit sind: „I’ll see you in my dreams“. Denn der Tod ist nicht das Ende, singt Bruce flehentlich und es klingt wie eine Beschwörung. Die Wehmut und melancholische Aufbruchstimmung von „Letter To You“ haben mich durch die bleierne Zeit der Pandemie getragen. Mut gemacht und Trost gespendet, als noch kein Licht am Ende des Tunnels zu sehen war. Ich bin am Leben, sang Bruce. Ich bin am Leben, sang ich im Auto und in der Küche. Diese Musik war und ist der Soundtrack meines Lebens.

Ein heißer Tag im Juli. Wir stehen am Einlass des Hamburger Stadions, die Sonne brennt unerbittlich auf uns runter. Es ist kaum auszuhalten, aber Schatten zu suchen, hieße aufzugeben, was keine Option ist. Wir, das ist meine Familie. Meine geliebten Menschen. Als die Tore geöffnet werden, rennen wir los in den Innenraum, als ginge es um alles. Wir schaffen es fast bis ganz vorn an die Absperrung. Zweite Reihe hinter der front of stage. Wir setzen uns und warten. Gegen 19 Uhr betreten dann Bruce und die E Street Band die Bühne und legen mit „No Surrender“ los, dem Song über diesen Moment der Ewigkeit, den man nur in der Jugend erleben kann. Auf einem Videoschnipsel ist zu sehen, wie ich mit einem breiten Grinsen mitsinge, genauer gesagt brülle ich mit, so laut ich kann. An diesem Abend habe ich schon an die 30 Bruce-Konzerte hinter mir, aber dieses ist einzigartig. Zwischendurch blicke ich mich um und sehe meine Lieben mitsingen, sehe sie tanzen, springen und träumen. Ich sehe ihre seligen Gesichter, nehme sie nacheinander in den Arm und drücke so fest ich kann. Ich weiß: Mehr geht nicht. So nah, so verbunden – besser kann es nicht sein oder werden. Es wird so kommen, wie Bruce es in der Zugabe prophezeit. Als er darauf hofft, dass er später nicht herumsitzen wird, um über seine längst vergangenen „Glory Days“ nachzudenken und langweilige Geschichten darüber zu erzählen. Er macht sich da aber keine Illusionen und gibt augenzwinkernd zu: Wahrscheinlich werde ich genau das tun. Ja, so wird es wohl kommen. Auch ich werde dasitzen und die anderen mit meinen Erinnerungen nerven. Wenn ich mir das vorstelle, muss ich grinsen. Alles ist, wie es sein sollte. Es wird nicht einfacher werden. Das Schicksal wird zuschlagen, wenn wir es am wenigsten erwarten, aber es wird irgendwie weitergehen. Und wir werden uns alle in unseren Träumen wiedersehen. Da bin ich mir sicher.

Dieser Text wurde als Vorwort erstveröffentlicht im Buch „nichtgesellschaftsfähig – Musik, Psyche, Identität und Gesellschaft“.