„SIE SAGTE, DAS LICHT BRICHT IN SCHERBEN.“ (DIE ART) 

Sid Vicious Illustration: Schwarwel

von Jennifer Sonntag

Hätte es den TikTok-Trend damals schon gegeben, wäre ich wohl der komplette Gegenentwurf eines „Vanilla-Girls“ gewesen. Mein Kinderzimmer wirkte wie aus einem Abrisshaus zitiert. Sid Vicious, fotokopiert aus raren Sex-Pistols-Fanzines, pöbelte von sämtlichen Wänden und meine Barbies wurden als Nancy-Spungen-Doubles in einen lackledernen Junkie-Look mit grünen Haaren gezaust. Meine Schulheftränder waren verziert mit Totenkopflogos von Lieblingsbands. 

War ich ein Kind von Traurigkeit? Vielleicht war ich es genau deshalb nicht, weil ich als junge Punkerin ein Ventil fand für meine Angst vor Verlust und Vergänglichkeit. Und den größten Trost fand ich in Musik und Subkultur. 

„Born to lose“ hatte mehr mit mir zu tun, als ich mir damals eingestehen wollte. Unsere Szene bestand aus Kids, die alle irgendetwas verloren hatten. Einige hatten ihre Eltern oder ihr Zuhause verloren und lebten auf der Straße, andere büßten dort durch Prostitution viel zu früh ihre Unschuld ein und andere durch Drogen ihr junges Leben, ich hingegen sollte bald mein Augenlicht verlieren, ich wusste nur noch nicht wann. Bis das soweit sein würde, rebellierte ich gegen soziale Missstände, sah inzwischen ähnlich gewöhnungsbedürftig aus wie meine umgepunkten Barbies und so klang auch die Musik, die ich hörte. Das warf Fragen auf in der Lehrerschaft und irritierte Familienmitglieder und Nachbarn. Einen deutlichen Push hatte meine Auseinandersetzung mit Düsterthemen und Seelenrissen damals auch durch meine unfreiwillige Außenseiterinnenrolle an einem Gymnasium erfahren. Je weniger ich dazugehören konnte, je lauter ihr hämisches Lachen, umso lauter wurde auch die Musik unter meinen Kopfhörern. Während sich meine Mitschüler:innen konkurrenzkämpfend in eine erfolgreiche Zukunft visualisierten, konnte ich im wahrsten Wortsinn zunehmend intensiver mit dem Finger dran fühlen, dass Zerbrechlichkeit, Vergänglichkeit und Verlorensein ebenso zum Leben gehörten und dass dieses Leben manchmal etwas anderes mit einem vorhatte, als man sich wünschte. 

War das ein Grund, alles „schwarz“ zu sehen? Auch wenn mein Musikgeschmack mit eintretender Erblindung wirklich zunehmend schwärzer wurde und sich Übergänge von der Punk- zur Gothic-Szene formten, machte mich gerade das zu einem lebensbejahenden und vielseitig interessierten Menschen. Das war durchaus erhellend. Ich wurde süchtig nach Erkenntnis und suchte in all den Büchern, die ich bald nicht mehr lesen konnte, nach Antworten auf meine brennenden Fragen zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Die Soundtracks meiner Jugend und die  Aufgaben, die sie mir mitgegeben hatten, nahm ich mit in mein Studium. Ich durfte nun lernen, etwas gegen die sozialen Missstände zu tun, von denen ich Augenzeugin geworden war. Durch Beruf und Berufung eröffnete sich ein neuer, erfüllender Sinn, wenn auch mein Sehsinn vor sich hin starb. 

Na, die Ohren waren mir geblieben. Meine geliebte Musik konnte ich noch hören, auch wenn ich ehrlicherweise darunter litt, meine Lieblingsbands auf der Bühne nicht mehr zu sehen. Ich war eine junge Frau voller Lust und Leidenschaft und manch Augenschmaus sollte mir nun entgehen. Aber ich gab es nicht auf, mit meinem damaligen Partner zu so vielen Konzerten wie möglich zu fahren, und erhielt nun oft Gelegenheit, mit Bands zu sprechen oder einen Händedruck zu erheischen. So lernte ich auch die Leipziger Indie-Band Lament kennen, deren einstiger und langjähriger Keyboarder Dirot heute der Mann an meiner Seite ist. Kürzlich hatten wir einen merkwürdig verbindenden Moment: Ich zitierte wie aus dem Nichts einige Zeilen aus dem Lament-Song „Last Dance Of Summer“ und Dirot meinte: „Komisch, das Lied ging mir auch gerade durch den Kopf, weil ich darüber nachgedacht habe, was mal auf meiner Beerdigung gespielt werden soll“. Uff, seit seinem schweren Verkehrsunfall kann ich solche Aussagen nicht mehr mit denselben Ohren hören wie zuvor. Und seit ich weiß, wie Depression schmeckt, tanze ich anders zum Schneewittchen-Song „Der Tod hat sich verliebt“.

Depression ist für mich grausamer als Blindheit. Menschen denken immer, Blindheit ist schwarz. Nein, sie ist kunterbunt. Depression hingegen malt wirklich alles schwarz und nicht auf die elegante Weise, sondern auf die richtig miese Tour. Auch wenn ich nie ein oberflächlicher Mensch war, schwingt Musik heute noch tiefer in mir. Sie ist wie Therapie. Am schlimmsten war es für mich, dass ich, als die Depression erstmals in mein Leben trat, nicht mal mehr meine Lieblingsmusik ertrug. Sie zündete nichts mehr an in mir, ich fühlte mich wie erfroren unter dem Eis. Damals wusste ich nicht, dass das vorbei geht. Heute bin ich froh, dass ich in meiner größten Verzweiflung den schrecklichsten aller Auswege nicht wählte, denn Depressionen sind behandelbar und da sollte noch so viel wundervolle Musik auf mich warten.

Sid Vicious pöbelt inzwischen nicht mehr von meinen Wänden, aber ich komme auch heute noch oft besser mit Menschen klar, die aus den richtigen Gründen nicht klar kommen, in Anbetracht der wirklich „Irren“ auf dieser Welt. Die Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur, Musik und Literatur, die davor die Augen nicht verschließt, gibt mir mehr Kraft, als dass sie schreckt. Angst und Depression werden besprechbar, integrierbar und weniger bedrohlich. Zäsuren haben mich früh erwachsen und heute noch ein bisschen demütiger gemacht. Im Laufe der Jahre habe ich meine Lieblingslieder um die Klangfarben meines Lebens ergänzt. So halte ich es nun schließlich auch wie Casper, dessen Musik mich durch meine schwersten Zeiten trug: „Schief und doch schön, wir sind Tiefen gewöhnt.“ Auch ich glaube fest daran, „dass ein Song noch immer Leben retten kann“ und „dass den Liedern, die man liebt, immer Frieden inne liegt.

Dieser Text wurde erstveröffentlicht im Buch „nichtgesellschaftsfähig – Musik, Psyche, Identität und Gesellschaft“. Der zugrundeliegende Ursprungstext erschien im Endlichkeitsmagazin drunter+drüber Nr. 14 „Musik und Tod”, Mai 2022.