AUGEN AUF BEI DER BERUFSWAHL: BORDERLINE UND BÜHNE

Foto Anne Martin: Hannah Franke

von Anne Martin

Ich hasse Musik.

Eine Haltung, die Stumpen und Knorkator in gleichnamigem Titel schon 2003 voller Vehemenz skandierten (Ohrwurm? Sehr gerne.), fasst das zusammen, was Menschen mit Borderline wohl die Hälfte der Zeit empfinden. Die andere Hälfte ist dafür da, voller selbstzerstörerischer Ekstase darin aufzugehen und sich jeden Vers als Lebensmaxime oder gerade richtige Medikamentierung zum jeweiligen Zustand aufs Revers zu schreiben. Dazwischen gibt es nichts. Hass und Liebe. Schwarz und Weiß. Gut und Böse. Belebend und giftig.

Dumm nur (oder auch sehr weise, aber keinesfalls etwas dazwischen), dass die Musik als Urmittel menschlichen Ausdrucks des Inneren a) ausgerechnet auch noch maßgeblich zur Kommunikation mit anderen beiträgt, was für Borderline-Persönlichkeiten das Non plus Ultra oder die Kugel in den Kopf bedeuten kann, und sie b) zudem fast ausschließlich verkappte Charaktere in ihren Bann zieht, sie dazu versklavt, ihr in Passion und Profession das ganze Leben zu widmen.

Einer dieser dummen wie weisen Charaktere bin ich: Musikwissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt auf Soziologie und Anthropologie (Ausgerechnet! Schon wieder so viel mit Kommunikation unter Leuten.). Sängerin, vorrangig im Jazz, die Heil wie Flucht auf der Bühne sucht – natürlich Show inklusive, weil es keinen besseren Anlass gibt, seine Alltagsmaske in aufreizendes Glitzer zu tünchen und somit noch mehr den Anschein zu erwecken, man hätte alles mega im Griff. Denn zu alledem und darüber hinaus lebe ich mit einer Borderline-Störung, die, wie oben angedeutet, nur zur Hälfte wirklich stört, zur anderen Hälfte aber ein Segen ist, was ich im Spektrum der ersten Hälfte natürlich niemals zugeben würde.

Dass Musik seit jeher eine heilende wie lindernde Wirkung für die menschliche Psyche hat, die dabei nicht einmal mit starken Problemen belastet sein muss, sondern manchmal nur ein gutes Gefühl vermittelt, wenn sie einfach vor sich hindudelt, ist erwiesen. Achtung! Das gilt aber in den meisten Fällen nicht für Borderline-Menschen, weil der bei ihnen ohnehin schon immerwährende Input und das damit verbundene Stresslevel (Tinnitus, Gedankenkarussell, Ausführen von inneren und äußeren Zwängen etc.)  durch eine beiläufige Geräuschkulisse noch stark potenziert werden und im schlimmsten Fall heftig triggern kann.

Darum ist es auch mir nur möglich, Musik in von mir festgelegten Dosen zu konsumieren, um sie tatsächlich genießen zu können. Dass ich sie mir ausgerechnet zum Beruf gemacht habe, war in diesem Zusammenhang sicherlich nicht die bequemste Entscheidung für eine Karriere (auch aus wirtschaftlicher Sicht, kann ja aber nicht jeder ein Rockstar werden), aber wir Menschen mit Borderline sind per Diagnose euphorisch kampfwütig und nehmen aus diesem Grund auch bisweilen masochistische Herausforderungen wie diese an, integrieren sie in unser Leben und geben ihnen Raum, sich mit unserer Symptomatik zu vereinen, in welche Richtung sie auch ausgeprägt sein mag.

Stichwort Tinnitus. Bist du Borderliner und/oder akustisch traumatisiert und machst beruflich Musik? Dann ist dieses Fiepen, ob ein- oder beidseitig, dein ewiger Oberton direkt aus der Hölle. Wahrscheinlich wusste der psychische Druckausgleich deiner geschundenen Seele, die wie die Experten nicht mal mehr einordnen kann, ob deine Defizite psychischer oder neurologischer Natur oder beides sind, an irgendeinem Punkt nicht mehr wohin, warnte dich womöglich mit dem einen oder anderen Hörsturz noch vor, um dir mit Pauken und Trompeten einen Dauerton zu verpassen, der sich nicht einmal auf eine Note festlegen lässt UND in besonders stressigen Situationen auch noch im Minutentakt moduliert. Eigentlich geil – fast ein eigenes musikalisches Werk, liefe es nicht Dauerschleife in deinem Kopf, ob du willst oder nicht. Übrigens auch ein Grund, warum viele vom Tinnitus Betroffene ihren Ohrton lieber mit Sprechgeräuschen (Radio, Fernsehen usw.) zu überspielen versuchen, weil das ewige Störgeräusch schlichtweg jedweden Musikgenuss versaut.

Was aber, wenn Melodie, Mehrstimmigkeit und Dynamik dir das Essen auf den Tisch bringen und du dich mit derlei Überreizung arrangieren musst, um arbeitsfähig zu bleiben? Ich habe mir eben mal wieder die sinnlose Mühe gemacht, meinen beidseitigen Tinnitus in einem normal entspannten Gemütszustand übers Klavier als Ton zu definieren. Singe ich ihn mit, ist es ein A. Spiele ich den Ton zeitgleich am Klavier an, ist es fast ein As, aber auch nicht so wirklich. Soll heißen: Mikrotonale Veränderungen in meinem Gehör/Gehirn klatschen sich kichernd ab, während ich in der Proben- und Bühnenpraxis versuche, einen homogegen Klang mit meinen Musikerkollegen herzustellen und beizubehalten. Das geht, keine Ahnung wie, erfordert aber übermäßige Konzentration zur überdies nicht nur im Jazz immer wieder neuen Livesituation auf der Bühne, weil hier eben viel improvisiert wird und musikalische Schlagabtausche eine punktgenaue Kommunikation erfordern. Schweifst du ab, hast du verloren, schon gar, wenn du mit Borderline lebst – quasi dem Inbegriff fürs exzessive Abschweifen.

Denn völlig egal, ob im Musikbusiness oder an der Drechselbank: Menschen mit Borderline-Syndrom können und müssen teils sekündlich von einem Fokus zum nächsten wechseln. Und wieder zurück. Und beide gleichzeitig mit noch einem dritten und vierten dazu. Das macht uns zu hervorragenden Zuhörenden, die ad hoc das Gesagte des Gegenübers aufnehmen, verarbeiten und adäquat mit Zwischenfrage, Ratschlag oder einfach einem aufmerksamen Gesicht reagieren, nebenbei aber noch das vorübergehende Kind davor retten, über seinen offenen Schnürsenkel zu stolpern, dem Tischnachbarn Feuer geben, weil er seins nicht findet und der Servicekraft signalisieren, dass wir gern nochmal das Gleiche trinken möchten.

Auf der Bühne macht sich diese Ausformung der Hypersensibilität natürlich hervorragend, wenn es um die Interaktion mit dem Publikum geht. Denn egal, ob Borderline auf der Bühne oder nicht: Die Mehrheit des Publikums geht prinzipiell davon aus, dass wir da oben nicht mitbekommen, was unterhalb im Gemenge vor sich geht. Überraschung! Ich für meinen Teil könnte mich jederzeit in eure Gespräche einklinken, euren Kommentar über mein Outfit vervollständigen, dich zurück auf den Platz neben deiner Frau delegieren, der du gerade eine Weißweinschorle holen solltest, oder dich heldenmutig darauf hinweisen, dass dir gleich der Senf von der Bratwurst tropft. Trotz Tinnitus und nahendem Einsatz nach Instrumentalsolo. Ob das als Superkraft für die Allgemeinheit deklariert werden kann, sei erstmal dahingestellt, aber mich amüsiert es jedes Mal königlich, wenn ich auf diese Weise in Interaktion mit dem Publikum treten kann. 

Und da ich mit meinem Borderline im Nacken zu übermäßigem Sarkasmus neige und überdies aus Gründen der Verletzbarkeit und Angst davor, gleich meine Maske aus extrovertierter Kampfansage von wissenden Agenten im Zuschauerraum vom Gesicht gerissen zu bekommen, artet so eine Reaktion meinerseits auch gerne mal in einem Hohelied der Publikumsbeschimpfung aus. (Im Eifer der Situation reiche ich da natürlich nicht ganz an Peter Handke ran, aber ich liebe diesen Begriff.)

Ist das fair? Wahrscheinlich nicht. Jedoch einmal aus mir herausgeplatzt, steht es sowieso ausgesprochen im Raum, der Rest der Anwesenden hat Spaß, weil es niemanden von ihnen getroffen hat und ob meiner mir zugeschriebenen Rolle als Rampensau auf der Bühne geht ohnehin jeder davon aus, dass ich hier gerade meine persönliche Paraderolle a la Désirée Nick oder Lisa Eckhart verkörpere, mal ganz davon abgesehen, was man von ihren Programmen halten mag.

Nun gut, lassen wir sie mal in dem Glauben, solange meine verbalen Niesanfälle eine bühnenreife Symbiose mit meinen gesanglichen Leistungen eingehen.

Was mir die Publikumsbeschimpfung im Positiven beschert, ist Platz, quasi eine Schutzbarriere, in der ich atmen kann, in der mir keiner zu nahekommt und niemand die Unsicherheiten bemerkt, die mich simultan zum ganzen Bühnengeschehen begleiten. 

Wer im Anschluss an unsere Konzerte noch die Chuzpe hat, mich anzusprechen, oder schlimmer noch, Fachliches ungezwungen bei einem Absacker bereden zu wollen, erlebt abseits der Bühne wider Erwarten nicht das verbale wie singende Wurfgeschoss von eben und bleibt dementsprechend verdutzt zurück, wenn ich auf die oft gestellte Frage, warum ich eigentlich keine eigenen Texte schreibe (Tu ich, aber für niemandes Ohren.), zu bedenken geben muss, dass meine Gedanken zum inneren und äußeren Weltgeschehen, mich oder andere betreffend, sicherlich kein Sujet für ein unterhaltsames Abendprogramm bei lauer Sommerluft wären. Kaum jemand möchte dann noch näher ins Detail gehen. Komisch.

Foto Anne Martin: Hannah Franke

Zurückgelassen werde dann, nach solchen Tagen voll musikpsychologischer und sozialpädagogischer Schwerstarbeit, denen für gewöhnlich zwar zwischenmenschlich schöne, aber durchaus schlauchende Probenstunden vorausgehen, auch ich: ausgelutscht und müde. Ich möchte glatt behaupten, mein Zustand in solchen Momenten lässt sich schwer mit einem normalen Erschöpfungsgefühl zum Feierabend vergleichen. Mein Körper bedankt sich wieder einmal für so eine Herausforderung, für die er eigentlich nicht geschaffen ist, mit u. a. Schüttelfrost, widerlicher Migräne, Übelkeit und einer übermannenden Müdigkeit, die mich dazu zwingen möchte, an Ort und Stelle einzuschlafen, selbst wenn der Rückbau auf der Bühne noch bevorsteht. Nur noch über mich ergehen lassen kann ich dann Menschen, die mir glückselig über ein schönes Kulturerlebnis um den Hals fallen – wo ich ungefragten Körperkontakt sowieso total feiere –, meine Barriere augenblicklich gebrochen ist, ich umgehend keine Luft mehr bekomme und mich nur noch bemühen kann, dem Gegenüber meine geballte Schwäche nicht aufzulasten wie Atlas die Erde. Sie würden es nicht verstehen, geschweige denn stemmen können oder wollen und ich hätte keine Kraft, es ihnen zu erklären; habe ja schließlich auch mit der Erde auf meinen Schultern zu tun.

Klingt das Ganze vielleicht ein bisschen zu wehleidig und sollte ich mich nicht einfach mal zusammenreißen oder gleich einen anderen beruflichen Weg einschlagen? Nö. Das wäre genauso vermessen wie einen Menschen mit Depression darum zu bitten, er solle nicht immer so traurig gucken, jemandem mit Bulimie einen Vortrag über den Verschleiß des Zahnschmelzes durch Magensäure zu halten oder Suizidgefährdeten zu weissagen, dass nach einer Nacht mit ausreichend Schlaf die Sonne auch für sie wieder scheint.

Selbstverständlich habe ich bestimmt einmal mehr gezweifelt als andere, zweifle immer noch häufig an der Entscheidung, einen in jeder Form unsicheren Berufsweg eingeschlagen zu haben, und erwische mich häufig dabei, wie ich es Flüche über mich regnen lasse, weil ich damals kein Handwerk erlernt habe, das so richtig eklig-scheppernden Krach macht, damit ich diesen verschissenen Tinnitus wenigstens acht Stunden täglich plus Überstunden nicht ertragen muss. Aber herrje, Kreissäge geht auch gut während der Freizeit.

Nun ist es aber auch so, dass wir Borderliner Dinge durchziehen. Nicht unbedingt, weil wir das wollen und es uns die reine Wonne ist, immer die anstrengendste Variante von allen zu wählen: Wir können nicht anders und ein persönliches Scheitern durch Aufgabe oder Stagnation hätte für uns schlimmere Konsequenzen, als sich bei dieser einen Sache, für die wir uns entschieden haben, mit voller Inbrunst ins Verderben zu stürzen; einfach, um am Ende zu sehen, dass wir nicht gescheitert sind und daraus Kraft ziehen für die kommenden Etappen. Und scheitern wir doch, haben wir uns dieses Grab selbst ausgehoben. Das gesteht sich kein Mensch gern ein und gewiss sind die Folgen für Menschen mit Borderline ungleich schwerer als für solche ohne psychische Belastungen. Wer von uns das vorher halbwegs abzuschätzen bzw. einzuordnen weiß, hat dafür therapeutische Ansätze parat, ob autodidaktisch oder mit Hilfe erlernt. Dieses sogenannte Skills Training ist gewiss keine Allheilmethode, zaubert nicht die facettenreichen Macken so vieler seelischer Erkrankungen fort, die das Borderline-Syndrom in sich vereint. Aber es hilft vielleicht, ähnlich wie Antidepressiva, gewisse Symptome in besonders brenzligen Momenten abzumildern oder, noch besser, umzulenken. Denn mal ehrlich: So richtig normal sein wollen wir nicht und können wir auch nicht und sind deshalb mehr als prädestiniert dazu, Kunst  zu machen. Dann lieber doch die eigenen dominierenden Symptome in Superkräfte verwandeln und den Rest der Welt mit offenem Mund dastehen lassen, wissend, dass die Fassade niemals bröckeln darf, damit niemand an das zarte Fleisch unter dem harten Panzer gelangt.

In der Bühnenpraxis bedeutet das für mich (und nur für mich, weil es andere unter Garantie niemals so handhaben würden): 

1. Dankbar sein für die starke Wand an Mitmusikern und Freunden, an die ich mich auf der Bühne jederzeit und bedingungslos anlehnen kann, auch wenn ich ihnen in den vergangenen gemeinsamen Jahren noch nicht jede meiner Seiten zumuten konnte, sie das wissen, mich aber nicht drängen blankzuziehen.

2. Die Glitzermaske so tief wie möglich ins Gesicht ziehen, sobald der Spot auf mich gerichtet ist und dadurch voller Selbstverständlichkeit strahlen, dass keine weiteren Fragen aufkommen. Und wenn doch: Publikumsbeschimpfung.

3. Schöner singen als der Tinnitus.

Nun bin ich aber auch ein Mensch abseits der Bühne, der gern Musik rezipieren möchte, ohne jedes noch so gefeierte oder auch beschissene Stück der Musikgeschichte von vorn bis hinten analysieren zu müssen, anstatt es einfach mal schnöde durchzuhören. Zugegeben, aufgrund meines Studiums habe ich diesbezüglich noch mittelgroße Defizite. Bin ja selber schuld.

Aber immerhin kann ich dem Thema Ohrwurm mittlerweile ohne große anschließende Lebenskrise begegnen, weil ich ihn noch in jüngerer Vergangenheit wie Sheldon Cooper mit seinem „Knock, knock Penny“ fehlerfrei bis zum Schluss in meinem Kopf durchspielen musste. Nur blöd, wenn einem einzig ein Melodie- bzw. Textfragment durch die Synapsen schwirrt und völlig unklar ist, wie es danach weitergeht. 

Ich dann früher: Recherchiert Lied samt Text, lernt auswendig. Ich kenne viele Lieder. Ich heute: Erstellt sich Playlist für den Tag im Kopf und zwingt sich, sie in exakt dieser Reihenfolge abzuspielen. Das funktioniert ähnlich wie Träume lenken und je länger man übt, umso häufiger klappt es. 

Und sollte es bei all dem Lärm in meinem Kopf doch irgendwann dazu kommen, dass ich Musik wirklich mit Zeit und Muße genießen möchte, gewinnt auch bei mir in erster Linie der eigene Geschmack, allerdings mit kleinem Upgrade, weil ich mich als Musikerin wie auch Borderline-Person da sehr schlecht festlegen kann: Ich weiß zwar ganz genau, was für mich schlechte Musik ist, fragen sollte aber niemand, ob ich gute Musik für mich eingrenzen kann – diese Welt ist einfach viel zu groß. Also halte ich es für mich in erster Linie so – auch um dem Wahnsinn durch Überanalyse vorzubeugen -, in der Einfachheit die komplexe wie geniale Schönheit der Musik zu finden.

Ja, ich könnte Namen nennen, würde mich aber spätestens morgen dafür hassen, weil die Liste mit Sicherheit nicht komplett wäre.

Dieser Beitrag wurde erstveröffentlicht im Buch „nichtgesellschaftsfähig – Musik, Psyche, Identität und Gesellschaft“.