VOM ZWANG DER ZWÄNGE
von Dr. Anja Michme
Ein junger Mann sitzt in einer Arztpraxis und wartet, aufgerufen zu werden. Plötzlich gibt es Aufregung im Flur vor dem Wartezimmer. Durch die leicht geöffnete Tür bekommt man mit, dass einem Kind schlecht geworden ist und es sich – dort im Flur – übergeben hat. Eine unangenehme Situation, für das betroffene Kind, das Praxispersonal und alle anderen, die es mitbekommen haben. Für den jungen Mann ist diese Situation jedoch mehr als unangenehm. Sie löst in ihm eine starke Angst und eine fast unerträgliche Anspannung aus.
Der junge Mann leidet unter Emetophobie, der (irrationalen) Angst, erbrechen zu müssen und dem damit verbundenem Kontrollverlust.
Als Kind und Jugendlicher hatte er immer wieder in Stresssituationen unter Anfällen von Erbrechen gelitten, welches über Stunden nicht aufhörte und auch Notbehandlungen im Krankenhaus nötig machte. Die aus diesen Erlebnissen resultierende Angst lässt ihn nun schon seit einiger Zeit Dinge meiden, die Übelkeit hervorrufen könnten, sorgt dafür, dass er ein bisschen genauer hinschaut beim Mindesthaltbarkeitsdatum von Lebensmitteln und sich gründlich die Hände vor dem Essen wäscht.
An diesem Tag, nach dem Erlebnis in der Arztpraxis, schleicht sich plötzlich der Gedanke ein, er könnte etwas in seinem Mund haben, das Übelkeit auslösen wird. Als hätte er dort in der Praxis etwas eingeatmet. Die Anspannung und Angst verstärken sich erneut und der Impuls „Ich sollte mir den Mund ausspülen, damit nichts passiert.“ scheint die einzige rettende Lösung. Also geht er ins Bad und spült den Mund mit Wasser aus. Spürt die Erleichterung, das Absinken der Angst. Immer wieder wiederholt sich diese Kette zwischen plötzlich auftretendem Gedanken an etwas in seinem Mund, dass nur das Mundausspülen helfe und dem Gang ins Bad an diesem Tag und auch den folgenden.
Die Zwangshandlungen weiten sich, vor allem zeitlich, immer mehr aus.
Bald muss er den Mund mehrmals und länger ausspülen, das Händewaschen wird intensiver und auch die Kontrolle des Mindesthaltbarkeitsdatums genauer. Immer mehr (Zwangs)Handlungen und Rituale kommen hinzu, werden nötig, bevor der junge Mann überhaupt etwas essen kann. Das alles, um dem (Zwangs)Gedanken „Das könnte Übelkeit auslösen.“ und der damit verbundenen Angst vor Erbrechen und Kontrollverlust zu entfliehen. Die Zwangshandlungen weiten sich, vor allem zeitlich, immer mehr aus. Sie dauern mehrere Stunden vor dem Essen und auch das Fertigmachen zum Verlassen der Wohnung wird immer ritualisierter und zeitaufwendiger. Der junge Mann vernachlässigt sein Studium, muss es schließlich komplett aufgeben. Nach mehreren stationären und ambulanten Therapien, die nicht zu einem umfassenden Abbau der Zwänge oder der Angst vor dem Erbrechen führen, scheint es keine Möglichkeit der Eingliederung ins Arbeitsleben, keine Perspektive für eine neue Ausbildung zu geben. Auf Anraten beantragt er eine Erwerbsminderungsrente. Diese wird ihm – vollständig und unbefristet – zugesprochen. Da ist der junge Mann gerade 29 Jahre alt …
Zwänge sind nicht immer so stark ausgeprägt wie in dem Beispiel, nicht immer haben sie so weitreichende Konsequenzen. Jedoch empfinden die Betroffenen ihre Handlungen fast immer als übertrieben oder unnötig, etwa wenn sie sich wieder und wieder die Hände waschen müssen, aus Angst „kontaminiert“ zu sein; erleben ihre Gedanken teilweise als erschreckend und abstoßend, wenn zum Beispiel der Impuls auftaucht, jemanden vor die Straßenbahn zu stoßen oder mit einem Messer zu verletzten.
Zwangshandlungen können auf Ordnung und Symmetrie, auf Kontrollen, Waschen, Zählen und Wiederholen ausgerichtet sein.
Die Betroffenen verstehen nicht, warum sie sich so unsinnig verhalten oder wie sie so etwas Schreckliches denken können. Warum sie nicht mit den Handlungen aufhören, die Gedanken unterbrechen können, sie immer länger dauern, immer größere Bereiche ihres Lebens einnehmen. Dabei können sich Zwänge auf praktisch alles beziehen. Die verschiedensten Situationen, Gegebenheiten, Gegenstände können zum Auslöser für Zwangsgedanken werden. Ein Patient berichtete mir, dass die Absicht, das Fernsehprogramm umzuschalten, zum Auslöser für Zwangsgedanken werden konnte, aber auch das Unterqueren einer Brücke oder bestimmte Zahlen zu dem Zwangsgedanken führen konnten, dass ihm oder seinen zukünftigen Kindern etwas Schlimmes passieren wird. Zwangshandlungen können auf Ordnung und Symmetrie, auf Kontrollen, Waschen, Zählen und Wiederholen ausgerichtet sein. Dabei sind die konkreten Handlungen sehr vielfältig. Eine Patientin beschrieb den Zwangsgedanken, sie könne jemandem schaden, wenn sie beim Einkaufen die letzte Packung eines Artikels aus dem Regal nehme. Deshalb machte sie immer Fotos der Regale, um sich später vergewissern zu können, dass noch mindestens ein weiterer Artikel zurückgeblieben ist.
Eine Zwangsstörung – und das unterscheidet sie von alltäglichen Ticks – ist zeitaufwendig. Sie kann das Leben deutlich beeinträchtigen und schränkt die Betroffenen ein. Sie leiden unter den Gedanken und Handlungen und schämen sich oft dafür. Manchmal lassen sich Lebensereignisse wie in unserem Beispiel finden, die die Entstehung der Zwangsstörung mit erklären können. Allerdings entsteht sie immer aus einem Zusammenspiel vieler verschiedener Faktoren aus biografischen, (neuro)biologischen und genetischen Einflüssen.
Häufig treten Zwangsgedanken (wiederkehrende, sich aufdrängende Gedanken, Ideen, Bilder und Impulse) und Zwangshandlungen (Rituale und Verhaltensweisen, auch gedankliche Handlungen, zu denen sich die Betroffenen gedrängt fühlen, die sie kaum unterlassen können) gemeinsam auf. Die Zwangshandlungen helfen meist, die unangenehmen Gefühle zu verringern, die in Folge der Zwangsgedanken entstehen. Dabei sind die auftretenden Gedanken – wenn auch merkwürdig – keineswegs unnormal.
Der Großteil der Bevölkerung erlebt solch aufdringliche, automatische Gedanken. Zu Zwangsgedanken, die Angst, Ekel, Anspannung und Unruhe auslösen können, werden sie erst, wenn sie eine Bedeutung bekommen, zum Beispiel, weil die Betroffenen die Wahrscheinlichkeit überschätzen, mit der eine angenommene Katastrophe tatsächlich auftritt, oder sie glauben, dass etwas zu denken auch bedeutet, es zu tun. Oft empfinden sie eine übermäßige Gewissenhaftigkeit und Verantwortung. Das lässt die vorgestellten Konsequenzen für andere und sich selbst noch katastrophaler erscheinen.
Die Betroffenen beginnen etwas dagegen zu unternehmen, beginnen Angst, Anspannung und Unruhe zu neutralisieren, z. B. durch Wasch- und Kontrollzwänge, durch geistige Handlungen wie das Zählen oder Denken von Gegengedanken, oder durch das Einholen von Rückversicherungen.
Je größer die Bedeutung ist, die den aufdringlichen Gedanken zugeschrieben wird, desto stärker sind die ausgelösten unangenehmen Gefühle. Die Betroffenen beginnen etwas dagegen zu unternehmen, beginnen Angst, Anspannung und Unruhe zu neutralisieren, z. B. durch Wasch- und Kontrollzwänge, durch geistige Handlungen wie das Zählen oder Denken von Gegengedanken, oder durch das Einholen von Rückversicherungen. Kurzfristig führt dies zum gewünschten Effekt. Die unangenehmen Gefühle lassen nach. Gleichzeitig werden aber die übermäßig negative Bedeutung und das Verantwortungsgefühl weiter verstärkt – denn die Zwangshandlung hat ja zunächst einmal die Gefahr scheinbar unter Kontrolle gebracht. Durch die Zunahme der Bedeutung werden auch die automatischen Gedanken immer aufdringlicher. Langfristig bleibt die Zwangssymptomatik hartnäckig bestehen, verschlimmert sich meist noch; wie bei dem jungen Mann im Beispiel.
Und wer sich jetzt fragt: „Ja, aber warum lassen sie dann nicht einfach die Handlungen?“, der sei zu folgendem Experiment eingeladen:
Nehmen Sie sich einmal Ihren Lieblingsschuh. Ja, genau den Schuh, mit dem Sie normalerweise viel draußen unterwegs sind. Haben Sie ihn? Super. Und jetzt streichen Sie mit Ihrer Handfläche über die Schuhsohle. Reiben Sie sie ruhig ein wenig hin und her. Wiederholen Sie das mit der anderen Hand. Sehr gut. Legen Sie nun den Schuh beiseite. Und jetzt fassen Sie sich mit den Händen ins Gesicht. Nicht nur mal kurz an die Wange, sondern richtig ins Gesicht, überall hin. An die Augen, die Nase, an ihren Mund, die Stirn, in die Haare. Sind Sie noch dabei? Das ist gut. Und jetzt schauen Sie mal, was passiert. Haben Sie gerade darüber nachgedacht, wo Sie schon überall mit diesen Schuhen waren? Wie Sie neulich an dieser Raststätte zur Toilette mussten. Dort, wo es so unangenehm gerochen hat. Oder wie Sie mit Ihren Lieblingsschuhen nur knapp den Hundehaufen verfehlt haben. Sind Sie sicher, dass nicht doch etwas an der Sohle Ihres Schuhs gelandet ist? An der Sohle, die Sie soeben angefasst und sich anschließend alles in Ihr Gesicht geschmiert haben? Merken Sie, wie ein Ekelgefühl in Ihnen entsteht, es leicht auf Ihrer Haut kribbelt, Sie immer angespannter werden? Was würden Sie jetzt am liebsten tun? Sind Sie etwa schon auf dem Weg ins Bad, um sich die Hände und das Gesicht zu waschen, schön gründlich mit viel Seife?
Lassen Sie doch einfach das Waschen!
Was also tun bei Zwängen?
Eine effektive Behandlungsmethode ist die Exposition mit Reaktionsverhinderung. Was so sperrig klingt, meint, dass die Betroffenen mit den Auslösern für Zwänge direkt konfrontiert werden bei gleichzeitigem Unterlassen der Zwangshandlungen. So vielfältig wie die Zwangsstörung ist, so vielfältig ist auch die genaue Vorgehensweise bei dieser verhaltenstherapeutischen Methode. Eine Übung könnte, z. B. bei Kontrollzwängen sein, die Wohnung zu verlassen, ohne vorab zu kontrollieren, ob der Herd aus ist oder zurückzugehen, um noch einmal einen Blick in die Küche zu werfen, den Herd anzufassen. Bei Symmetrie- und Ordnungszwängen kann geübt werden, Unordnung in den Alltag zu bringen, Dinge zu verstellen. Bei Kontaminationsbefürchtungen kann geübt werden, „schmutzige“ Dinge zu berühren und das anschließende Händewaschen zu unterlassen.
Ihr Zwang wird quasi Alarm schlagen und alles tun, um sie doch zu den erlösenden Handlungen zu bewegen, oft noch Stunden, teilweise auch Tage nach der Übung. Bewältigt geglaubte Gedanken können manchmal erneut aufflackern und wieder Anspannung und Unruhe auslösen.
Was hier so leicht klingen mag, ist in der Realität mit großer Anstrengung und Anspannung bei den Betroffenen verbunden. Sie sollen die unangenehmen Gefühle, die sich noch einmal verstärken werden, zulassen können, werden zunächst eine Zunahme ihrer Zwangsgedanken bemerken. Ihr Zwang wird quasi Alarm schlagen und alles tun, um sie doch zu den erlösenden Handlungen zu bewegen, oft noch Stunden, teilweise auch Tage nach der Übung. Bewältigt geglaubte Gedanken können manchmal erneut aufflackern und wieder Anspannung und Unruhe auslösen. Immer wieder muss geübt werden. Oft zunächst in Begleitung der Therapeuten, viel mehr noch in Eigenregie. Eine absolute Voraussetzung für das Gelingen der Methode ist, dass die Betroffenen selbst entscheiden, wann sie für die Übungen bereit sind, was sie tun wollen, was sie sich konkret für die einzelnen Übungen vornehmen. Dafür ist behutsame Vorarbeit nötig. Eine Reihe von sogenannten kognitiven Methoden können Fertigkeiten im Umgang mit den Fehlbewertungen, also jenen Annahmen, die dem aufdringlichen Gedanken erst seine Bedeutung geben, vermitteln und so die Zuversicht für die Exposition stärken. Da können schon einmal die Risiken für das tatsächliche Auftreten einer angenommenen Katastrophe (z. B. die Ansteckung mit einer schlimmen Krankheit) berechnet, die Zwangsgedanken hinterfragt oder Verantwortungstorten (ein Torten-Diagramm, welches die Faktoren, die an einem Ereignis beteiligt sind, darstellt) erstellt werden. Und auch emotionsfokussierende, auf Achtsamkeit beruhende und erlebnisorientierte Ansätze können zum Einsatz kommen und helfen, Abstand zu den Zwangsgedanken zu erlangen.
Und was passierte mit dem jungen Mann vom Anfang dieses Textes? Als er zu mir in Therapie kam, konnte er weder essen noch trinken, ohne vorher zwei bis drei Stunden Zwangshandlungen durchzuführen, weshalb er nur noch einmal am Tag Nahrung zu sich nahm und trank. In seinen Alltag, in die täglichen Abläufe waren ritualisierte Handlungen integriert, die ihn davor schützen sollten, erbrechen zu müssen. Dazu kamen die therapeutischen Behandlungen, die nicht zur Reduktion der Zwänge geführt hatten. Auf den ersten Blick nicht die idealsten Voraussetzungen.
Und dennoch, der junge Mann hatte sich noch lange nicht damit abgefunden, mit den Zwängen in dieser Ausprägung leben zu müssen, berentet zu sein, nichts mehr tun zu können. Er hatte ein Ziel vor Augen – ein erfüllteres Leben zu führen, mal eine eigene Familie zu haben – und wollte dafür nun endlich schaffen, die Zwänge anzugehen. Über einige Sitzungen hinweg arbeiteten wir an dem Selbstvertrauen und der Zuversicht, die er benötigte, um sich an die Exposition zu wagen. Ebneten mit kleinen Alltagsübungen den Weg für den nächsten, von ihm anfänglich sehr gefürchteten Schritt der Konfrontation. Zu jeder Zeit entschied er selbst, mit welchen Übungen und in welchem Tempo er weitermachen will, bis er sich schließlich den schwierigsten Auslösern, erst dem Trinken, dann dem Essen ohne Ausübung von Zwangshandlungen stellen konnte. Heute isst und trinkt er, wenn er Hunger und Durst hat ohne vorherige Rituale. Die Brezel gleich frisch vom Bäcker essen? Kein Problem. Bei Familienfeiern im Restaurant schaut er nicht mehr zu, wenn die anderen essen und trinken, sondern probiert neue Speisen aus. Wenn jemand aus dem Chor, in dem er singt, Geburtstag hat, isst er wie alle anderen das obligatorische Stück Kuchen mit Genuss.
Die Angst vor dem Erbrechen taucht auch jetzt immer wieder auf, manchmal sogar so stark, dass er überlegt, ob es sicherer ist, nichts zu essen. Aber auf diese Gedanken lässt er sich nicht mehr ein. Er kann die Angst besser einordnen, sie leichter aushalten. Glaubt, dass er eine Situation, in der er tatsächlich erbrechen muss, bewältigen kann. Und er baut nach und nach und selbstständig die vielen kleinen Handlungen ab, die ihm im Alltag noch Sicherheit vor dem Erbrechen geben sollen. Er ist noch nicht an seinem Ziel angekommen. Weiß, dass das Üben, die Arbeit an seinem Zwang ihn wahrscheinlich immer in irgendeiner Form begleiten wird. Dennoch schaut er zuversichtlich in die Zukunft, überlegt sich erste Schritte aus der „Vollrente“ und sagte erst vor wenigen Tagen zu mir: „Es geht nicht um Heilung, es ist nicht wichtig, dass alles vom Zwang weg ist. Es ist wichtig, dass man weiß, damit umzugehen.“
Für meinen Patienten: Vielen Dank an Sie! Dass ich Sie auf Ihrem Weg ein Stück begleiten darf und ihre Geschichte (in deutlich verkürzter Form und stellvertretend für viele andere Betroffene) für diesen Text nutzen durfte.
Dieser Text wurde erstveröffentlicht im Buch „Nicht gesellschaftsfähig – Alltag mit psychischen Belastungen“.

aus „Gevatter – Kapitel 1: Verleugnung“