FÄLLE, DIE VOM TELLERRAND FALLEN

Interview mit Dr. Mark Benecke

Foto: Oetinger Experimente

von Sandra Strauß und Schwarwel

Seit über 20 Jahren ist der Kölner Kriminalbiologe international auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Forensik aktiv und hat sich insbesondere der Entomologie verschrieben. Nach seiner Promotion an der Uni Köln im Institut für Rechtsmedizin absolvierte er diverse fachspezifische Ausbildungen auf der ganzen Welt, so zum Beispiel beim FBI. Als Deutsch- lands einziger öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für biologische Spuren untersuchte er unter anderem Adolf Hitlers Schädel. Nebenbei veröffentlicht er zahlreiche wissenschaftliche Artikel, diverse Sachbücher sowie Kinderbücher und Experimentierkästen.

Im Februar 2021 haben wir mit Mark im Rahmen unserer #nichtgesellschaftsfähig-Buch-Veröffentlichung und -Online-Talk-Reihe dieses Interview geführt: über Forensik und Psyche, über seine Arbeit, über psychische Belastungen, über Borderline, Depression, Schizophrenie, Zwang, über Serientäter, über das Leben und über noch so viel mehr. Wir fanden dieses Gespräch so gut, dass wir es hier abdrucken möchten. 

Sandra: Du bist Kriminalbiologe, Forensiker,  hast schon Unmengen an Büchern veröffentlicht, du gibst sehr viele Seminare und hältst Vorträge. Das nur als kleiner Auszug aus deinem umfangreichen Schaffen. In unserem ersten #nichtgesellschaftsfähig-Buch durften wir ein Interview mit dir aus dem Gothic-Magazin abdrucken, in dem es um Suizid, Depression, Borderline und auch Sterbehilfe geht. Das sind alles Themen, mit denen du dich in deiner Arbeit auseinandersetzt. Wie und in welcher Art genau beschäftigst du dich mit psychischen Belastungen?

Mark: Wir in unserem Team selbst sind relativ offen für Schrecken, also charakterlich, weil wir alle sonst in dem Beruf nicht arbeiten könnten. Das ist der Vorteil, den wir haben. Bei uns ist es so, dass wir ganz offen sind und auch alles erstmal prüfen, ohne Annahmen zu machen. Gleichzeitig – so kann man es sagen – lassen wir uns nicht einspannen. Gerade bei Sexualdelikten oder Fällen, bei denen Eltern ein getötetes Kind haben, hören wir ihnen zu und sagen auch ganz ehrlich, was wir spurenkundlich dazu messen können, aber wir lassen uns nicht in die Gefühlswelt mit reinziehen.

Wir haben auch oft mit Suiziden zu tun. Es gibt unglaublich viele Suizide. Wir haben in Deutschland ca. 10.000 Suizide pro Jahr und Hunderte bei unter 25-Jährigen. Das ist relativ unbekannt. Borderliner haben eine sehr hohe Menge an Suiziden, aber auch an Psychosen Erkrankte haben eine sehr, sehr hohe Rate. Das wirkt sich natürlich auch auf die Angehörigen aus, die dann z. B. unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Wir beobachten, dass sich viele Sachen durch die Familien durchziehen. 

Das ist wirklich ein ganz bunter Strauß, den wir bei unserer Arbeit mit psychischen Erkrankungen und psychischen Besonderheiten haben. Und im Laufe der Jahre haben wir sehr viele kennengelernt, auch z. B. im Knast. Persönlichkeitsgestörte, etwa psychopathisch Gestörte, die ja immer auch narzisstisch sind, das sehen wir alles live. Wir sitzen mit ihnen am Tisch, wir reden mit ihnen, mit ihren Angehörigen, und wenn die Opfer überleben, auch mit den Opfern. Wir können gut damit arbeiten.

Schwarwel: Ist es Teil der Ausbildung, dass man da etwas mit an die Hand bekommt?

Mark: Überhaupt nicht. Da redet niemand mit dir darüber. Das einzige Mal, dass ich das wirklich mitbekommen habe, war bei der FBI Academy. Da gab es einen Psychologen – so richtig, wie man sich das vorstellt: mit wuscheligen Haaren und einem Karohemd und einer Cordhose. Ich weiß nicht mal, ob das eine echte Cordhose war, aber es wirkte so … Jedenfalls hat er etwas Gutes gemacht. Er hat sich tagelang mit den Polizisten und Polizistinnen sowie mit uns verfaulte Schweine und Leichen angeschaut. Am letzten Tag hat er sich im Hörsaal einfach vorn auf einen Stuhl hingesetzt und gesagt: „Ja, erzählen Sie mal.“ Das war das einzige Mal im Leben, dass ich das so mitbekommen habe. Da hat sich der Himmel verdunkelt. Es stellte sich heraus, dass sehr viele Polizisten und Polizistinnen stark unter all dem leiden. Damals gab es noch keine Behandlungen für Posttraumatische Belastungsstörungen. Das war zu dieser Zeit alles noch unbekannt. Man kannte das höchstens aus Vietnam, den Soldaten aus den USA, aber nicht im polizeilichen Umfeld. Sie litten auch darunter, dass sie nicht gelobt wurden, dass sie aus ihrer Sicht eine sehr harte Arbeit machen und dass die Medaillen oder Lobe die Vorgesetzten in Washington bekommen. Aber nicht die Leute, die diesen verfaulten Teenager aus dem Flussbett rausgekratzt haben und das den Angehörigen mitteilen müssen. Ansonsten ist alles learning by doing gewesen. 

Foto linke Seite: Thomas van de Scheck

Schwarwel: Wenn es euch doch mal zu sehr packt: Wie gehst du damit um? Oder an wen wendet ihr euch in solchen Momenten?

Mark: Uns packt das eigentlich nicht. Das Einzige, das ich mache, ist: Ich gehe gern auf Tagungen, beispielsweise zu einer winzigen Gruppe, die eine ganz alte Art von Psychologie praktiziert. Das nennt sich Tiefenanalyse, das macht heute fast niemand mehr. Wenn du heute an die Uni gehst und mit jungen Leuten redest, bekommen sie einen Lachanfall, wenn du davon erzählst: „Häh, bist du bescheuert? Das gibts doch überhaupt nicht mehr, oder?“ Antwort: „Doch, gibt es noch.“ Und da gibt es eine Unterabteilung, die sich mit Psychosen beschäftigt. Da gehe ich sehr gerne hin. Sie haben ein paar Spezialisten und Spezialistinnen, die dabei sind. Sie gehen beispielsweise in sogenannte toxische Abteilungen im Krankenhaus oder in der Pflege, in denen dadurch, dass das Management schlecht ist, ganze Abteilungen nicht mehr funktionieren: Pflegerinnen und Pfleger lassen sich allesamt krank schreiben. Die Ärzte und Ärztinnen drehen alle am Rad usw. – also eine toxische Abteilung. Sie gehen da rein und versuchen, das Team wieder zusammenzurücken. Oder sie gehen in die Psychiatrie, wenn sich dort eine Borderliner-Station befindet, und die Menschen, die dort arbeiten, nicht genügend Informationen über Borderline haben. Viele kennen Menschen mit Borderline immer nur als Störenfriede, die sofort Sex haben und alles durcheinanderbringen. Da muss man eben erklären, wie die Psychodynamik funktioniert.

Wir hatten mal einen Fall, bei dem wir merkten, dass die Familie auseinanderfiel. Also der Vater und die Mutter fielen auseinander. Der Sohn war ein mittelharter Junge, der sich mit den Drogenjungs eingelassen hatte und getötet worden ist. Die Polizei hat das nicht verfolgt. Sie haben gesagt, dass er beim Pinkeln betrunken in den Teich gefallen und im eiskalten Wasser ertrunken ist. Das ist aber auf keinen Fall so gewesen, weil die Jacke von dem Jungen an einer völlig falschen Stelle lag. Daran hat man gesehen, dass jemand diese von der Brücke geworfen hat. Er hat in der kalten Nacht wohl nicht seine Jacke an der falschen Stelle von der Brücke geworfen, um dann beim Pinkeln an der völlig anderen Ecke des Teichs ins Wasser zu stürzen. Also das ist kriminaltechnisch und räumlich-zeitlich schwer nachvollziehbar. 

Das ist wie bei Sexualdelikten – auch wenn die Opfer überleben, bricht meist die Beziehung auseinander. Also: Wenn du nach Hause kommst, nachdem du vergewaltigt worden bist – als Mann oder als Frau – ,  dann befindest du dich anfänglich noch in dieser Traumadämpfung drin. Irgendwann jedoch bricht die Beziehung auseinander. Die Zahlen sind nicht genau bekannt, weil viele Delikte nicht gemeldet werden. Aber wir sagen so als Faustregel, dass in 99 % der Fälle die Beziehung zerbricht, weil einer der Partner damit nicht klarkommt. Es ist egal, wer, es muss nicht das Opfer sein. Es kann auch der Partner oder die Partnerin sein, der oder die es geistig und körperlich nicht verkraftet. 

Wir fragten einen Psychose-Psychoanalytischen-Therapeuten: „Können Sie uns sagen, wie wir in solchen Situationen mit Menschen reden?“ Er antwortete: „Ich habe Sie, nachdem ich mir alles ausführlich angehört habe, verstanden, und das ist jetzt eigentlich ein vergleichsweise kleines Problem im Vergleich zu so einer toxischen Abteilung, wo man mit sehr vielen, komplizierten Problemen, die die Leute da reinschleppen, zu tun hat. Mein Rat an Sie ist: Sie werden das nicht ändern können. Schönen Tag noch.“ Und dann haben wir gesagt: „Ok, auf diese Lösung sind wir nicht gekommen.“ Das war die einzige Lösung, die wir nicht kannten, weil wir im Labor nur die Regel kennen: Es gibt keine Probleme, es gibt nur Lösungen. Und er war der Erste, der gesagt hat: „Ja, es gibt leider auch unlösbare Probleme. Also für Sie unlösbare Probleme.“ Wenn die Klient:innen in Paartherapie gehen, dann können die Paartherapeuten das lösen, aber wir nicht, wir sind dafür nicht zuständig. 

Sandra: Ich bin noch hängengeblieben an deinen Ausführungen, dass du auch viel im Knast bist. Wir haben mal eine intensive Comic- und Film-Workshopreihe in einer JVA mit jugendlichen Straftätern durchgeführt. Das heißt, du sitzt dann mit ihnen zusammen am Tisch? Wie kann man sich das vorstellen?

Schwarwel: Weshalb bist du denn dort?

Mark: Das kann verschiedene Gründe haben. Also entweder beauftragen sie uns, weil sie der Meinung sind, dass die Spuren falsch bewertet und/oder gar nicht genommen wurden. Der häufigste Fall ist, dass die Spuren gar nicht eingesammelt oder nicht im Gerichtsverfahren verwendet wurden. Das ist immer gut für uns, also gut für unsere Spurenkunde. Spurenkundlich und juristisch ist es so, dass Spuren, die vor Gericht nicht verwendet wurden, dann später verwendet werden können. Während, wenn die Spuren falsch bewertet wurden, man diese trotzdem häufig nicht mehr verwenden darf. Das ist total verrückt, das leuchtet überhaupt nicht ein, aber das hängt damit zusammen – das nennt man freie Beweiswürdigung –, dass das Gericht entscheidet, welche Spuren verwendet werden oder nicht und was sie bedeuten. 

Ich gehe auch zu Fällen, die mich einfach nur interessieren, und wenn sich herausstellt, dass der Täter oder die Täterin reden möchte, rede ich einfach mit ihnen. 

Ein Beispiel, über das ich sprechen darf: Ich war bei einem Serientäter, der sehr viele Kinder getötet hat. Er war es, die Leichen sind auch alle gefunden worden. Er hat selbst gesagt, an welchen Stellen die Leichen lagen. Es war ganz klar, dass nur er es sein konnte, der es getan hatte. Ich fand es interessant zu erfahren, wie eine so hohe Opferzahl entstehen konnte. Das kam mir total seltsam vor. Er hat über 300 Kinder totgefoltert und dann dachte ich mir, wie hat er das gemacht, ohne dass so etwas auffällt. Mit ihm wollte niemand reden, weil alle gesagt haben, dass er ein Monster ist. 

Dann gibt es Fälle, sehr bekannte Fälle, über die ich nicht im Detail sprechen darf, bei denen ich einfach zu den Tätern gesagt habe: „Möchtest du nicht wirklich mal die Details erzählen, ohne dass das juristisch oder spurenkundlich nochmal groß weiter ausgewertet wird. Das ist doch niemals so gewesen, wie das jetzt vor Gericht aufgefasst wurde.“ Der Grund ist, dass der Täter oder die Täterin meistens vor Gericht nichts sagt, weil die Strafverteidiger und Strafverteidigerinnen immer raten: „Sagen Sie einfach gar nichts, egal, was Sie sagen, das geht nach hinten los. Einfach Fresse halten.“ Und das machen sie meistens dann auch. Aber das führt eben dazu, dass die echte Geschichte, wie sie sich spurenkundlich abbilden würde, nicht erzählt wird. Und das halte ich im Bezug auf die Vorbeugung für ein großes Problem. Denn wenn sie nicht die echte Geschichte erzählen, weiß man nicht, wie man Vorbeugungsmaßnahmen gestalten soll. Das ist das Einzige, was mich interessiert. Ich will nicht der Mensch sein, der die Tat aufgeklärt hat, sondern ich bin derjenige, der wissen möchte, wie es wirklich passiert ist, um das in die Vorbeugung einzubeziehen. 

Und dann gibt es auch Täter – sagen wir besser „die angeblichen Täter“ –, die es überhaupt nicht gewesen sind und die irgendwie geistig drei Jahre später aufwachen und sagen: „Was zum Fuck ist eigentlich die letzten drei Jahre hier passiert?“ Die meisten falsch Verurteilten denken, dass es so eine Art Gerechtigkeit gibt und sie vor Gericht nicht verurteilt werden können. Und wenn sie dann verurteilt werden, sind sie völlig weg, sie nehmen das als unwirklich wahr. Sie denken, das ist nicht passiert. Irgendwann merken sie, dass das leider doch passiert ist und dass sie jetzt im Knast sind.

Foto: Rocksau Pictures

Schwarwel: Es gibt sie also, die Unschuldigen im Gefängnis?

Mark: Ja, es gibt echte Unschuldige. Es gibt natürlich die, die die Tat aus ihrer Sicht anders erlebt haben und die Strafe ungerecht finden.Aber es gibt auch die komplett Unschuldigen, jedoch sind das ganz wenige.

Sandra: Weil du zu Beginn auch über eine Borderline-Station und die gesellschaftliche Wahrnehmung von Borderliner:innen gesprochen hast, möchte ich dich fragen, wie du diesen Zustand bzw. diese Störung beschreibst. Wir waren sehr froh, dass in unserem ersten #nichtgesellschaftsfähig-Buch so viele über das Thema gesprochen haben, weil wir vorher dachten, dass wir niemanden dafür finden. 

Mark: Das ist ganz verblüffend. In meiner beruflichen Welt ist es so, dass das unbekannt ist. Also die Kriminalist:innen, Spurenkundler:innen, Polizist:innen wissen überhaupt nicht, was das ist, sie haben noch nie von Borderline gehört. Oder wenn sie davon gehört haben, dann wissen sie nicht, was es bedeutet. Es gibt natürlich Ausnahmen. Das wäre die kurze Antwort. 

Die etwas längere Antwort ist: Wenn das vor Gericht ausnahmsweise thematisiert wird – weil es natürlich auch Borderliner und Borderlinerinnen gibt, die Taten begehen –, dann wird das meist vor Gericht nicht verstanden. Also wenn ein Psychiater, eine Psychiaterin, ein Psychologe, eine Psychologin oder ein Sozialarbeiter, eine Sozialarbeiterin etwas zu dem Thema sagen möchte, dann hat das juristisch keine große Bedeutung, weil es ja nur um die Frage geht, ob sie gerade in einer akuten Psychose waren. Ansonsten hat das juristisch gar keine Bedeutung. Und polizeilicherseits sagen sich die Polizisten und Polizistinnen natürlich – und das kann ich auch verstehen: „Ja, okay, wieso ist die Angst, verlassen zu werden, jetzt eine Begründung für Gewalt, das verstehe ich nicht.“ 

Dann gibt es die Gegenseite. Es gibt die Partner:innen, die einfach an der Borderline-Beziehung zugrundegehen. Das ist der häufigere Fall, dass sie sich nicht trennen können, dass die Partner dann in dieser total kranken, also krankmachenden, auch strukturell kranken Beziehung bleiben. 

Es ist auch so, dass das ganze Konzept natürlich schwierig ist, weil man das eigentlich wahrscheinlich am ehesten noch ausdifferenzieren muss wie bei Spektrumserkrankungen,  Autismus und so weiter.  Aber was heißt Erkrankung? Es muss ja gar keine Erkrankung sein. Es kann auch nur eine Charaktereigenschaft sein bis hin zu einer echten Erkrankung. 

Bei Autismus sagen mittlerweile alle, die sich damit auskennen, dass es nicht DEN Autismus gibt, sondern dass jeder Autist, jede Autistin anders ist. Und das wäre wahrscheinlich auch bei Borderline etwas, das man stärker beachten müsste. Nur ist das Problem, dass Borderline  so schreit. Es ist so blutig, so sexuell, so laut und so hysterisch, dass es unheimlich anstrengend ist, sich die Menschen und Details anzuschauen. Was überhaupt nicht bekannt ist – da lege ich meine Hand dafür ins Feuer –, dass fast kein Polizist und keine Polizistin in Deutschland weiß, dass die Borderliner:innen  Teile ihrer Persönlichkeit selbst nicht ertragen können, dass sie diese nach außen verlagern und das dann jemand anderem an die Backe tackern. Daher kommt ja dieses ständige Aufwerten und Abwerten. Das sind sie selbst, aber sie nehmen sich eine andere Person und packen ihr Problem in eine andere Person rein und merken das aber selbst nicht. Sie wissen nicht, dass sie das machen. Und wenn man das besser verstehen würde, könnte man auch gerade in Kriminalfällen oder bei häuslicher Gewalt viel besser darauf eingehen. 

Das ist leider in meinem Fachbereich nicht bekannt. 

Foto: Benecke.Com

Schwarwel: Wer müsste das verstehen, Polizist:innen oder Kriminalpsycholog:innen?

Mark: Ich denke, wenn es die Polizei besser verstehen würde, würde es ihr viel einfacher fallen zu verstehen, dass z. B. auch Männer Opfer von weiblichen Borderlinerinnen werden. Und weiterführend, dass weibliche und männliche Borderline-Ausprägungen natürlich auch mit anderen Arten von Gewalt einhergehen. Manchmal gibt es mehr körperliche Gewalt, wenn einer stärker ist, manchmal ist es aber auch psychische Gewalt. Ich glaube, die Polizist:innen könnten dann schneller reagieren und überlegen, was sie machen. Und fürs Gericht wäre es auch nicht uninteressant, weil man dann gerichtlicherseits sagen könnte: „Passt mal auf! Wenn wir solche Fälle haben, dann wenden Sie sich doch an eine Organisation, die die Fälle sammelt, sodass wir dann besser in die Vorbeugung gehen können.“

Insbesondere auch, was die Fälle häuslicher Gewalt angeht: dass man da einfach viel früher eingreift, weil die Geschichten jeder kennt, der mit häuslicher Gewalt zu tun hat: Eigentlich wäre das jetzt gelöst; die Beziehung ist auseinandergebracht. Doch dann stehen sie fünf Tage später natürlich wieder da – es ist wie bei Alkoholikern, Alkoholikerinnen, wie bei Drogenkonsumenten und bei Dogenmissbrauch: „Nein, er oder sie hat mir geschworen, er/sie macht das nie wieder.“ Da sagt man: „Ääähhh, es ist aber jetzt das fünfzehnte Mal.“ Da könnte man bessere Vorbeugungsmaßnahmen ergreifen, die sich nicht immer erst ganz am Ende darum drehen, wer gut ist und wer böse. Das führt zu überhaupt nichts. Man kann früher auf Warnzeichen achten – auch in Zusammenhang mit Alkoholismus und Drogen. Borderliner:innen benutzen ja viele Drogen. Da kann man Menschen besser aufklären, dass die Droge vielleicht nur das Spätere ist. Ja, die Droge ist ein großes Problem und macht alles nur noch schlimmer, aber die Drogenvorbeugung würde hier überhaupt nichts bewirken, wenn man so eine schwere Störung hat. Man sollte auch die Störung zu behandeln versuchen, zumal das auch eine so große Häufigkeit hat. Das ist wie mit den Suiziden, von denen kaum jemand in der normalen Bevölkerung weiß, wieviele es gibt. Ich meine, Borderline ist total häufig im Vergleich zu vielen anderen Sachen. Wenn man mal seltene Krankheiten nimmt: Diese sind bis zu 10.000 Mal seltener als Borderline-Persönlichkeitsstörungen.

Sandra: Weil du gerade beim Thema häusliche Gewalt und Co-Abhängigkeit warst: Wie erklärst du dir, dass beispielsweise Frauen geschlagen werden und trotzdem bleiben? 

Mark: Männer auch. Das hat überhaupt nichts mit dem genetischen oder sozialen Geschlecht zu tun, das geht in beide Richtungen. Bei Männern wird es oft nicht geglaubt, wenn ein Mann sagt: „Meine Frau bedroht mich, verprügelt mich, setzt mich unter Drogen und schließt mich von meinen Sozialkontakten aus.“ Dann sagt man: „Hääähhh, was willst du denn, was ist denn mit dir los, dann tu etwas dagegen!“ Während man das einer Frau leichter abnimmt. Es geht in beide Richtungen. 

Ich gebe mal ein Beispiel: Entweder du schlitterst als junge Person da rein, weil du sehr früh für deine Eltern verantwortlich wirst, die halt nix auf die Kette bekommen, um das mal flapsig zu sagen. Sie sind psychisch krank, kommen nicht aus dem Bett, können nicht kochen und dich nicht versorgen, sie können auch seelisch nicht für dich sorgen. Da bist du das gewohnt und das schiebt sich sofort in die entsprechende Beziehung mit rein, weil du gar nicht merkst, dass das auch anders geht. Alle deine Grenzen, die du normalerweise ziehen müsstest, sind nicht vorhanden, weil du gar nicht weißt, dass da Grenzen sind. Und da landest du dann in der nächsten Beziehung, wo wieder ständig deine Grenzen überschritten werden. Und so stellen sich die Leute dann schützend als Partner vor ihren Partner und sind dann co-abhängig. Das ist ganz gut untersucht. 

Sandra: Thema Schizophrenie. Wir haben in unserem ersten #nichtgesellschaftsfähig-Buch die Geschichte einer Mutti, die eine schizophrene Tochter hat. Für sie ist es ganz schwer, in unserer Gesellschaft darüber zu sprechen, weil es immer heißt: „Schizophrene, das sind die Serienmörder und Attentäter.“ Da ist es einfach schwer, einen Therapieplatz für ihre relativ junge Tochter zu bekommen. Was kannst du zum Thema Schizophrenie sagen ?

Mark: Ich muss jetzt dazu sagen, dass mein Team und ich nur Fälle bekommen, die vom Tellerrand fallen. Wenn jemand mit einer psychotischen Geschichte seinen Nachbarn angreift, dann landet das nicht bei uns.

Es gibt eigentlich recht wenige psychotische Menschen, die das, was du schilderst, begehen. Es gibt keine psychotischen Serientäter. Die gibt es überhaupt nicht, weil sie sich überhaupt nicht entsprechend steuern können. Das liegt in der Natur der Psychose, dass man das nicht steuern kann. Ich meine, es hören ja auch nicht alle Stimmen oder sehen Schlümpfe rumlaufen. 

Aus einer Mischung aus beruflicher und privater Erfahrung kann ich sagen, dass Schizophrenie soweit zum Schlimmsten gehört. Das ist absolut lebenszersetzend. Und meistens geht das eher in die Richtung, dass diese Menschen sehr starke Medikamente bekommen und mit den ganzen Nebenwirkungen leben müssen. 

Oder – und das kann ich sagen, weil ich neben dem größten Trinkerheim Deutschlands mit Schulfreund:innen Teile meiner Jugend verbracht habe und auch unser Labor ganz in der Nähe ist –, dass es auch extrem viele Menschen mit Psychosen gibt, die sich alles wegsaufen wollen. Dann macht der Alkohol den Rest und sie sterben auch sehr früh. Das Durchschnittsalter liegt – ich habe den Priester gefragt, der sie beerdigt – bei 45. Ich dachte als Kind oder Jugendlicher immer, sie sind 70, weil sie meist solche langen grauen Bärte hatten, was übrigens auch manchmal ein Schizophrenie-Zeichen ist. 

Aus unbekannten Gründen haben diese langen Bärte auch viele Obdachlose, die ebenso häufig Psychosen haben. Es ist unbekannt, wie der Zusammenhang besteht. Sie ziehen auch ihre Schuhe nicht gerne aus. 

Also ich würde sagen, dass Schizophrenie wirklich eine der schlimmsten Krankheiten ist, die man haben kann. Aber sie führt nicht automatisch zu schweren Delikten. 

Um das mal in ein schräges Bild zu kleiden: Du denkst vielleicht, schrottige Schiffe sind Piratenschiffe. Das heißt, wenn du ein schrottiges Schiff siehst, musst du aufpassen, denn sie wollen bestimmt dein Gold klauen, deinen Pfeffer und deine Muskatnuss. Aber in Wirklichkeit hat ein schrottiges Schiff oft ein ganz anderes Problem. Wenn der Wellengang hoch ist, dann säuft das viel schneller ab als alle anderen: Achte also auf das möglicherweise ganz anders gelagerte Problem, das nicht dich, sondern die Menschen auf dem Schiff bedroht.

Schwarwel: Ich bekomme jetzt gerade Jack Sparrow nicht aus dem Kopf. (Anm. der Red.: Pirat aus „Fluch der Karibik“). Und bin da gleich auch bei Amber Heard und ihren Vorwürfen gegen den Schauspieler Johnny Depp.

Mark: Ja, Johnny Depp war stark alkoholsüchtig, das hat er selbst auch eingeräumt. Kokain hat er auch erwähnt. Aber in dem Umfeld kann man davon ausgehen, dass häufiger noch andere Substanzen im Umlauf sind, in Amerika oft Tabletten. Und die Mischung aus Alkohol und Tabletten kann man sich vorstellen. Gerade Xanax und viele Antidepressiva sind dort extrem im Umlauf, oft noch Aufputsch- und Beruhigungsmittel. 

Nehmen wir mal an, bei Johnny Depp war es „nur“ das Problem Alkohol. Aber was liegt darunter? Eine Beziehung mit einer Borderlinerin. Viele Schauspieler haben super Persönlichkeitsstörungen, mega mega mega oft. Das ist bei Schauspielern weit verbreitet. Und auch bei Musiker:innen. Daher kommt es ja auch, dass die Musiker tatsächlich hin und wieder mit 27 sterben – der Club 27. Oder dass Menschen wie Elvis Presley, Edith Piaf usw. streng genommen nicht am Alkohol gestorben sind, sondern daran, dass sie eine unbehandelte Persönlichkeitsstörung hatten, die sie sich wegsaufen wollten.

Lady Gaga z. B. scheint die Kurve zu kriegen – sie ist ja Borderlinerin. Wenn ihr euch das mal anschauen möchtet: Es gibt zwei Videos, nehmt einfach „Bad Romance“, das ist das Beste. „Bad Romance“ ist ein Lehrvideo, ein Borderline-Lehrvideo. Ich hab am Anfang echt gedacht, sie packt das nicht.

Foto: Oetinger Experimente

Sandra: Wir haben jetzt komplett unser ganzes Buch durch. Meine letzte Frage ist: Wie kann man psychische Belastungen noch stärker ins Bewusstsein unserer Gesellschaft bringen, weil es ja doch immer noch so ist, dass man es entweder nicht kennt oder es noch nicht so akzeptiert wird. Das Thema Depression ist jetzt schon irgendwie, sagen wir mal, etwas in der öffentlichen Wahrnehmnung angekommen.

Mark: Ja, aber auch nicht so richtig. Ich habe neulich mit Teresa Enke, der Ehefrau des Fußballtorwarts Robert Enke, eine Sendung gemacht. Sein Suizid war so ein Fall, der sehr bekannt wurde. Sie hat das wirklich gut beschrieben, dass du das Brett durch derartige Programme insofern gebohrt bekommst, weil der Tote so bekannt war. Die Menschen haben mitgefiebert, weil Deutschland halt ein Fußballland ist und niemand den Suizid von Robert so richtig verstanden hat. Aber man merkte, wie sie ganz genau bedacht darauf geachtet hat, die richtigen Worte zu benutzen, weil das sonst auch sofort wieder zurückschwappt in dieses „Ja, können die sich denn nicht zusammenreißen?“. Selbst wenn du eine Stunde lang ausführlich erklärt hast, dass sich diese Menschen nicht zusammenreißen können, weil es eben eine Krankheit ist – wie Krebs oder ein Beinbruch. Dann kommen die Leute trotzdem wieder und sagen: „Also, ja, aber …“. Man merkte richtig, wie sie sich konzentrieren musste, um bloß nicht wieder diese Flanke aufzumachen. 

Wir haben jetzt Februar 2021. Wenn unser Talk in 30 Jahren noch irgendwo rumgeistert, wird man das vielleicht endlich anders sehen. Aber ich kann das jetzt nur aus dem Autismus-Umfeld sagen: Autismus war ja auch ein bisschen en vogue, dass da Superkinder sind, die wissen, wieviele Streichhölzer gerade durch die Luft fliegen, wenn ich sie hochschmeiße. Das ist Bullshit. Was da am meisten geholfen hat und jetzt im Moment gerade hilft, ist meiner Meinung nach, darauf einzugehen. Also Autisten und Autistinnen schämen sich jetzt nicht so wie viele Menschen mit Schizophrenie und Depressionen. Dieses Scham-Ding ist bei ihnen zum Glück nicht so ausgeprägt. Deswegen scheuen sie sich auch nicht zu sagen, dass es eine Behinderung ist. Ihr werdet keinen Psychotiker, keine Psychotikerin finden, die sagen: „Ja, ich bin behindert.“ Das habe ich noch nie gehört.

Es gibt von den Vereinten Nationen – und das ist weltweit bindend für alle Länder, die sich den Vereinten Nationen zugehörig fühlen – ein Regelwerk, was eine Behinderung ist. Da braucht man nicht mehr rumdiskutieren. Dann könnte man z. B. die schweren psychischen Erkrankungen nehmen oder von mir aus auch die kombinierten Persönlichkeitsstörungen, die technisch keine psychischen Erkrankungen sind … Nehmen wir mal Borderline, also die ganz drastischen Sachen, wo es echt nix zu diskutieren gibt, und schauen mal, ob das im Alltag eine Behinderung darstellt. Dann würde man dazu kommen, dass man sagt: „Ja, na klar.“ Dann nennen wir es nicht Behinderung, weil das die psychisch Erkrankten und Persönlichkeitsgestörten nicht wünschen, sondern finden einen anderen Begriff dafür und sagen, dass das aber unter dasselbe Regelwerk fällt. Wenn das so ist, dann sind der Staat und die Gesellschaft verpflichtet, sich darum zu kümmern und dafür zu sorgen, dass es ihnen besser geht, dass sie in eine Umgebung kommen, in der sie besser lernen, besser arbeiten und besser leben können. Und damit wäre der Boden gelegt, dass darauf jetzt ein Haus gebaut werden kann, weil man dann nicht mehr darüber zu diskutieren braucht, was getan werden muss und wer zuständig ist. Man braucht nicht mehr darüber zu diskutieren, ob das eine Alltagseinschränkung ist oder nicht. Man muss nicht mehr darüber diskutieren, dass sie sich doch mal zusammenreißen müssen. Das braucht man nie wieder zu diskutieren. Man sagt ja auch nicht zu einem Rollstuhlfahrer, dessen Beine gelähmt sind, er solle sich mal zusammenreißen. Das Thema ist dann einfach weg. So würde ich da rangehen. 

Allerdings ist es auch die Frage, ob die psychische Erkrankung die Einsicht zulässt, dass es wirklich eine behindernde Einschränkung ist. 

Christian von Aster hat für euch einen hübschen, netten, kleinen Text geschrieben, den ich irgendwie gut finde, weil er nicht so dramatisch und Schweißperlen erzeugend ist, sondern eher  für normale Leute. Er schreibt, dass er ab und zu mal Besuch von der Depression bekommt und sich darauf einstellen muss. Das ist sozusagen so ähnlich wie das, was ich meine. Nämlich dass man sich sagt: „Okay, ich muss jetzt akzeptieren, dass das da ist und es im Moment für mich nicht einfach zu lösen ist, sondern dass sich meine Umgebung jetzt darauf einstellen muss.“ 

In England beispielsweise gibt es im Kino Autismus-Vorstellungen. Da wird dir vorher genau gesagt, was passieren wird, wie es aussieht, welche Farbe der Teppich hat, wieviele Bilder an der Wand hängen, wenn du da reingehst, wie laut das ist. Überhaupt kein Problem, das diskutiert überhaupt keiner mehr, das findet auch keiner irgendwie seltsam. 

Sandra und Schwarwel: Herzlichen Dank für unser Gespräch. 

Dieses Interview wurde erstveröffentlicht im Buch „#nichtgesellschaftsfähig – Tod, Verlust, Trauer und das Leben”.