„ICH EMPFINDE DIE AUSEINANDERSETZUNG MIT DEM TOD AUCH ALS LEBENSBEJAHEND.“
Interview mit Sarah Benz
von Sandra Strauß

Sarah Benz ist Musikerin, Dipl. Sozialpädagogin, Notfallseelsorgerin, Trauerbegleiterin, Bestatterin bei Thanatos Bestattung und Dozentin, u. a. für Kommunikation ohne Worte – KoW®. Sie gründete 2015 die „Sarggeschichten“, ein Kurzfilmprojekt über das Sterben, Abschiednehmen, Trauern und Erinnern. Die Filme informieren und ermutigen Menschen zu selbstbestimmtem Gestalten, wenn der Tod ins Leben tritt.
Sandra: Liebe Sarah, du bist Musikerin, Dipl. Sozialpädagogin, Notfallseelsorgerin, Trauerbegleiterin, Bestatterin bei Thanatos Bestattung in Berlin, du twitterst über selbstbestimmtes Abschiednehmen … Und jetzt weiß ich gar nicht, an welcher Stelle genau ich anfangen soll. Dein Twittername ist Sarah von den Sarggeschichten. Und mit den Sarggeschichten möchte ich gern beginnen. Ihr dreht kurze Filme für Kinder, Jugendliche und Erwachsene zu Themen und Fragen rund um Sterben, Tod und Trauer. Wie ist euer Projekt entstanden?
Sarah: Ich hatte im Sommer 2015 mit Jan Möllers, dem zweiten Gründungsmitglied, ein Gespräch, in dem ich ihm von meiner Idee erzählte, Kurzfilme zu Sterben, Tod und Trauer zu drehen. Wir hatten sofort ganz viele Themen für Episoden, aber kein Geld. Da half uns der Zufall und brachte uns mit der Deutschen Palliativstiftung zusammen. Sie haben uns dann anschubfinanziert. Seit 2017 sind wir ein Verein und finanzieren uns ausschließlich über Spenden. Es gibt bis heute 13 Sarggeschichten, die Menschen ermutigen, ihre Abschiedsprozesse selbstbestimmt zu gestalten. Seit 2020 besteht das Team aus mir und Katrin Trommler und wir planen, dieses Jahr zwei neue Sarggeschichten zu drehen.
Sandra: Wie wählt ihr eure Themen aus?
Sarah: Wir werden von Menschen auf Themen angesprochen, die sie umtreiben, und ebenso gibt es immer wieder Berührungspunkte in unserer Arbeit, die neue Themen aufwerfen. Wenn es danach geht, können wir sicher noch Jahre drehen, bevor uns die Ideen ausgehen.

Sandra: Was ist für dich das Besondere daran, eure Sarggeschichten zu produzieren und all die Themen filmisch in die Welt zu bringen? Was waren für dich dabei ganz besondere Momente und Situationen?
Sarah: Der Tod ist ja ein Thema, von dem es wenig Bilder gibt, und wenn, dann sind sie oft bedrückend, ohne Farben und eher undeutlich. Wir wollten das durchbrechen und zeigen, dass es auch im Abschied Lebendigkeit geben kann. Daher auch der rote Sarg. Rot ist ja eine Signalfarbe, die sagt: „Achtung, hier kommt was Wichtiges!“, aber sie ist auch die Farbe der Liebe. Deshalb haben wir uns für ein warmes Rot entschieden. Durch das Medium Film können wir in bewegten, bunten Bildern zeigen, was alles möglich ist, wenn der Tod ins Leben tritt. Es sind sowohl praktische Informationen als auch Ermutigung zur Selbstgestaltung der eigenen Prozesse.
Es ist viel greifbarer, wenn wir einfach zeigen können, wie man einer verstorbenen Person (sie wurde von einer Kollegin gespielt) einen Pullover anzieht, anstatt es kompliziert zu erklären. Wir können Trauerfeiern nachspielen, um zu demonstrieren, welche Rituale man dafür gestalten kann. Wir können mit der Kamera ein Krematorium von innen zeigen und Menschen von ihren Abschieden erzählen lassen.
Viele Menschen haben ihre Geschichten für unsere Filme erzählt. Das ist für mich ein großes Geschenk. Sie teilen mit uns, wie sie ihre Abschiede gestaltet haben, und dadurch wird unsere Trauerkultur vielfältiger und bunter, denn diese Geschichten inspirieren dann wieder andere Leute. So verändert sich etwas in unserer Abschiedskultur und wir bewegen uns hin zu mehr Selbstbestimmung und Freiheit.
Sandra: Was ist dein persönlicher Lebensweg, deine Inspiration und Intuition, dich auf so vielfältige Art und Weise mit Tod, Verlust, Trauer und dem Leben in der gesamten Bandbreite zu widmen?
Sarah: Ich war früh mit Verlusten konfrontiert und habe gelernt, dass man Dinge gestalten kann. So konnte ich beispielsweise meine Großmutter gemeinsam mit meiner Mutter waschen und anziehen, was eine sehr innige Erfahrung war. Mit allen Sinnen begreifen, dass ein Mensch gestorben ist, macht den Tod nochmal anders fassbar. Der Tod ist die ultimative Ohnmachtserfahrung für uns Menschen. Das ist ein Gefühl, was schwer auszuhalten ist. Sich im Angesicht dieser Ohnmacht als handelnden Menschen wahrzunehmen, weil man etwas tun kann, ist hilfreich für den Abschiedsprozess. Das wollte ich weitergeben und habe begonnen, mich fortzubilden, Trauerbegleitung anzubieten, mich in der Notfallseelsorge zu engagieren und Veranstaltungen zu organisieren.
Außerdem empfinde ich die Auseinandersetzung mit dem Tod auch als lebensbejahend. Leben ist fragil und zerbrechlich, das sehe ich immer wieder, und vielleicht ist es auch deswegen so ein Wunder.
Sandra: Bei all deinen vielfältigen Aufgaben: Wie kann man sich deinen Alltag vorstellen? Magst du diesen für unsere Leser:innen skizzieren und beschreiben?
Sarah: Ich arbeite als Dozentin für Kommunikation ohne Worte – KoW®. Das ist ein effektives personenzentriertes Interaktionskonzept und Trainingsprogramm für nonverbale Kommunikation mit sterbenden und demenzerkrankten Menschen. Dafür reise ich auch viel. Nonverbale Kommunikation ist auch sehr wichtig für den Umgang mit Menschen in Krisen, denn da ist unsere normale Informationsverarbeitung eingeschränkt und auch unsere Fähigkeit zu kommunizieren. Ich gebe auch Workshops zu Themen rund um Sterben, Bestattung und Trauer. Daneben arbeite ich als Trauerbegleiterin und berate Menschen, die sich bestimmte Dinge in ihren Trauerprozessen nochmal anschauen wollen oder einfach Unterstützung suchen. Bei Thanatos Bestattung in Berlin arbeite ich als Bestatterin. Ich begleite Menschen darin, die für sie passenden Abschiede zu finden und selbstbestimmt zu gestalten. So greift alles, was ich tue, irgendwie ineinander, auch wenn die Themen unterschiedlich sind. Ich habe das große Glück, dass mich meine Arbeit erfüllt und ich sie wirklich gerne tue. Meine themenbezogene Freizeit (ich nenne es jetzt mal so ) fließt in die Konzeption und das Drehen neuer Sarggeschichten, den Twitterkanal und die restliche Projektkoordination. Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und vor sich hinzuschauen, um es mit den Worten von Astrid Lindgren zu sagen.
Sandra: Du bist Bestatterin. Ist es schwierig und mit einer gewissen Reibung verbunden, Bestatterin zu sein?
Sarah: Ich bin mit großer Freude Bestatterin. Menschen in so einem wichtigen Moment begleiten zu dürfen, ist eine Ehre. Es ist meine Aufgabe, einen Raum zu schaffen, in dem die Menschen Platz haben, sich sicher fühlen und so entscheiden können, was sie sich für ihren Abschied wünschen. Ich lerne dabei immer wieder etwas Neues. Sicherlich gibt es auch Situationen, die herausfordernd sind. Mit meiner Supervisorin schaue ich mir meine Arbeit regelmäßig nochmal an und profitiere davon sehr. Das kann ich allen Menschen, die in sozialen Berufen arbeiten, nur empfehlen.

Sandra: Du bist tagtäglich so nah dran am Tod. Woraus schöpfst du Kraft? Oder ist es genau das, dein Alltag, die Beschäftigung mit den Themen rund um Leben und Trauer?
Sarah: In meiner Arbeit darf ich sehr viel Liebe sehen. Ich erlebe, wie sie die Menschen trägt und wie sie bleibt, auch wenn eine Person gestorben ist. Ich sehe sie in den Kindern, die für ihren Papa den Sarg bemalen, und in dem Sohn, der seiner Mutter die geliebte Zeitung mit in den Sarg legt. Sie wird sichtbar in den Eltern, die ihr verstorbenes Baby in den Armen wiegen und ihm etwas vorsingen, und in der alten Dame, die drei Stunden am Sarg sitzt, die Hand ihres Mannes hält und mit ihm spricht, bis alles gesagt ist, was noch offen war. Manchmal hat das Leben oder auch der Tod viel Liebe verschüttet. Dann steht der Sohn voller Wut vor der Trauergemeinde und erzählt, wie schwierig das Verhältnis zu seinem Vater war. Und während er redet, kommen ihm plötzlich die Tränen, und er kann das erste Mal in Worte fassen, was er sich eigentlich für einen Vater gewünscht hat.
All diese Momente sind kostbar und ich merke, wie viel es in Menschen bewegen kann, wenn sie die Möglichkeit bekommen, so Abschied zu nehmen, wie sie es brauchen. Daraus kann ich viel Kraft schöpfen, denn ich finde diese Arbeit sehr sinnstiftend. Ich finde außerdem viel Energie in Musik, beim Hören und auch beim Selbermachen. In der Natur sein, Stille genießen und Zeit mit Menschen verbringen, die mir wichtig sind, erdet mich auch immer wieder.
Sandra: Was ist Trauer?
Sarah: Da kann ich mit einem Satz von Chris Paul antworten: „Trauer ist eine natürliche Reaktion auf den Verlust eines Menschen oder einer Sache, zu dem/der eine sinnerfüllte Beziehung bestand.“ Für uns Menschen gehören Verluste unweigerlich zum Leben. Damit konstruktiv umzugehen, ist eine Kernkompetenz, die wichtig ist für unsere Gesundheit. Deshalb finde ich es auch wichtig, Kindern beizubringen, dass man Abschiede gestalten kann und Trauern eine wesentliche Fähigkeit ist.
Sandra: Was kannst du Menschen empfehlen, die mit einem Verlust und mit Trauer klarkommen müssen?
Sarah: Ich würde erstmal zuhören, was jemanden gerade umtreibt. Dann ist es hilfreich, Fragen zu stellen, um herauszufinden, was der jeweilige Mensch gerade braucht. Für manche ist es wichtig, zu begreifen, dass jemand tot ist. Andere suchen eine Verbindung mit der verstorbenen Person in ihrem Leben oder wieder andere hadern mit ihrer neuen sozialen Rolle, z. B. als Witwe oder verwaister Vater.
Menschen haben ein gutes Gespür dafür, was sie wollen und brauchen. Ich würde sie ermutigen, auf dieses Gefühl zu hören und ihre Bedürfnisse zu benennen.
Sandra: Warum ist es deines Erachtens wichtig, dass sich Menschen mit dem Tod auseinandersetzen? Ist das Thema Tod ein Tabuthema und #nichtgesellschaftsfähig?
Sarah: Dem Tod ist es herzlich egal, ob eine Gesellschaft fähig ist, mit ihm umzugehen. Aber wir haben etwas zu gewinnen, wenn wir uns mit ihm auseinandersetzen. Wenn wir handlungsfähig werden, können wir Abschiede gestalten und Selbstwirksamkeit erfahren. Das ist Empowerment für die Gestaltung unseres Lebens. „Ich wusste gar nicht, dass sowas alles möglich ist“, sagen Zugehörige oft zu mir. Wir sollten über Sterben, Tod und Abschied reden, darüber, was wir uns wünschen, für uns und unsere Zugehörigen. Diese Gespräche sind oft beziehungsstiftender, als wir uns vorstellen, und handeln viel von Identität und Liebe. Bestattung ist dann nicht mehr eine undurchdringliche Blackbox, sondern wir wissen, was möglich ist, können benennen, was uns wichtig ist, und es dann selbstbewusst tun.
Dieses Interview wurde erstveröffentlicht im Buch „#nichtgesellschaftsfähig – Tod, Verlust, Trauer und das Leben”.