#nichtgesellschaftsfähig – Alltag mit psychischen Belastungen (Outro zum gleichnamigen Buch)

Illustration: Schwarwel

von Sandra Strauß und Schwarwel

612 Seiten. Ein Jahr intensive Produktionszeit. Ein Buch mit Texten, Bildern und Fotos von über hundert Beteiligten, die sich alle mit dem Thema #nichtgesellschaftsfähig und dem Alltag mit psychischen Belastungen beschäftigen. 

Für uns fühlt sich das alles ziemlich rund und gut an, authentisch und lebendig … evtl. vielleicht gar nicht so #nichtgesellschaftsfähig. Doch darauf kann sich jede:r selbst eine Antwort geben.

Was genau bedeutet es, „normal“ zu sein? Wie definieren sich Gesellschaftsfähigkeit und #nichtgesellschaftsfähig. Brauchen wir derartige Begrifflichkeiten überhaupt? Wer setzt den Maßstab dafür, was der Norm entspricht? Was genau ist denn normal bzw. der Norm entsprechend? Und was und wer weicht davon ab?

Auf alle Fälle jedenfalls haben wir wunderbare und tiefgehende Beiträge unter der Headline #nichtgesellschaftsfähig erhalten – von Menschen, die kämpfen, jeden Tag aufs Neue früh aufstehen, Zähne putzen, ihren ersten Kaffee trinken. Oder das manchmal eben nicht schaffen. Und gefühlt oder ganz real am nächsten Tag wieder von vorn anfangen müssen.

Vor vielen Jahren auf einem unserer regelmäßigen Nachhausewege, als dieses Buch noch nicht mal im Ansatz angedacht war, sprachen wir darüber, wie man psychische „Störungen“ und „Krankheiten“ anders bezeichnen könnte. Weil wir mit unseren psychischen Belastungen leben, sie Teil von uns sind. Unabhängig davon, ob wir das möchten oder nicht. Genau das können wir uns nicht aussuchen. Wir können nur einen Weg finden, damit umzugehen, die berühmten kleinen Päckchen zu packen, den eigenen schweren Rucksack, den man mit sich rumträgt, zu erleichtern, sich von Belastungen frei zu machen, zu leben, den eigenen Weg zu gehen. Rausfinden, was einem selbst gut tut und diesen Weg straight weiterverfolgen. Auch wenn dieser nicht einer irgendwie gearteten „gesellschaftlichen Norm“ entsprechen sollte.

Aktuell haben wir eine Pandemie-Situation. Da ticken die Uhren anders. Die Welt ist eine andere. Und schon definiert sich das „Normale“, das „Gesellschaftsfähige“ anders.

Alles ist irgendwie komplett anders. Und doch ist alles doch nicht komplett anders.

Zurück zu unserem Nachhauseweg. Wir wollten den Teil, der zu uns gehört, Teil unserer Erfahrungs-, Erlebens- und Gefühlswelt ist, nicht als „Krankheit“ oder „Störung“ bezeichnen. Wir suchten schon damals eine andere Begrifflichkeit dafür. Einfach für uns, um Dinge für sich selbst erklären zu können. Und ja, jetzt bitte dabei ein großes Achtung mitlesen: Das ist aus unserer rein persönlichen Weltsicht geschrieben, aus der Ich-Perspektive. Wir sind uns sehr wohl bewusst, wie sensibel dieses Thema ist, da ja in unserer Gesellschaft gerade noch darum gekämpft werden muss, dass viele „nicht“-sichtbare psychische Belastungen überhaupt erst mal allgemein als Krankheit anerkannt werden.

Wir jedenfalls haben für uns und für unser Buch „Belastung“ als Wort gewählt.

Naja, ganz ehrlich: Wir haben uns die Frage gestellt, ob dieses Buch überhaupt ein Outro braucht, weil auf all den vorangegangenen Seiten in 23 Kapiteln schon so viel so gut gesagt und geschrieben wurde, dass dafür kein abschließender langatmig erläuternder Erklärbärtext notwendig ist.

Illustration: Schwarwel

Ursprünglich war ein Ansatz für unser Outro, dass wir uns der überlieferten Indianer-Geschichte und Weisheit vom alten Häuptling, der mit seinem Ur-Enkel am Feuer sitzt, widmen, weil diese uns schon inspiriert hat: Zwei Wölfe sitzen in unserer Brust, bei allen von uns, bei jedem. Der weiße und der schwarze. Welcher gewinnt? Der, den du fütterst.

Also gilt es für uns, den weißen Wolf zu füttern und ihm Raum in unserem Leben zu geben. Und eben nicht das Dunkle, „Falsche“ zu nähren.

Deshalb auch die Wolf-Illustration für unser Outro.

Bewusst gewählt haben wir auch die Kirschblüten für unser Cover und es mit einem Zitat aus dem Film „Last Samurai“ versehen.

Cover „Nicht gesellschaftsfähig – Alltag mit psychischen Belastungen”
Illustration: Schwarwel

Das braucht dann eben auch keine gesonderte Erklärbär-Erläuterung in unserem Outro. (Jetzt haben wirs doch getan!)

Dann war noch ein Ansatz, dass wir von den unglaublich starken Menschen, die in unserem Buch zu Wort kommen, im Outro schreiben. Menschen, die mit wirklich dunklen Höllen leben, traumatisierende Erlebnisse hatten, eine sehr verletzende Vergangenheit. Menschen, die mit ihren psychischen Belastungen leben müssen und leben und die kämpfen und Kämpfer:innen sind. Und die sich jeden Tag ihren Höllen und Dämonen stellen, wie all so viele Menschen das jeden Tag tun.

Doch auch dazu braucht es eigentlich keiner extra Erläuterung an dieser Stelle, weil sich das in ihren #nichtgesellschaftsfähig-Texten und -Interviews, in ihren Bildern und Bios widerspiegelt. 

Nur soviel sei noch einmal gesagt: Danke für euren Mut.

Tja, was gibts noch für ein Outro? Leistungsdruck, Leistungsgesellschaft, Kapitalismus. Gesellschaftlicher Druck und Zwang. Abgrenzung. Seinen eigenen Weg finden, zu sich selbst finden. Schauen, was einem selbst gut tut. Wir sind als Individuum Teil der Gesellschaft, doch wir sind eben auch Individuen. Einzelwesen.„Niemand ist eine Insel und keiner die ganze Welt.“ Auch das ist in unserem Buch zu finden.

Und auch wenn wir als Herausgeber:innen selbst wenig eigene Texte in unserem Buch haben, steckt hier auf 612 Seiten so unglaublich viel von uns drin.

In unserem Intro haben wir quasi auch schon alles gesagt, warum wir unser Buch machen.

Und ja, man kann sich weder aussuchen, in welche Gesellschaft oder in welche Familie man hineingeboren wird – jedenfalls nach unserer Weltsicht. Man hat es auch nicht unter Kontrolle, wenn einem etwas Schreckliches widerfährt. Man kann nichts dafür, wenn man unter Angst, Hypochondrie, Persönlichkeitsstörung, posttraumatischer Belastungsstörung, Zwang, Schlafstörung, unter Borderline oder Depression „leidet“, wenn man süchtig ist, eine Essstörung hat … all das …

Oder wenn man im Krieg aufwächst, die traumatischen Kriegserlebnisse seiner Vorfahren in sich trägt, mit Trauer, Verlust oder Tod klarkommen muss … oder wie jetzt in einer Pandemie-Situation …

Wir wissen nicht, wie man all das korrekt formulieren kann, weil es für unsere Begriffe kein „korrekt formulieren“ dafür gibt. Doch irgendwie ist es wichtig, d-a-s-s man es mal formuliert und in Worte packt. 

Wir wissen aus unserer Sicht: Man kann lernen, mit seinen psychischen Belastungen, mit seinen Zuständen oder mit seinen Triggern umzugehen. Alles in kleine Päckchen packen. Seinen eigenen schweren Rucksack etwas leichter machen. Seinen eigenen Weg finden, um klarzukommen. Sich Hilfe suchen. Mit Freund:innen und nahen Vertrauten und Weggefährten reden. Sein eigenes Setting finden oder seine Energie darauf verwenden, dieses Setting zu erschaffen.

Wir haben für uns gelernt: Wenn wir mit einer Situation, einem Gefühl, einem Trigger, einem Zustand nicht klarkommen, versuchen wir das zu reflektieren und für uns zu analysieren.

Ja, das ist ein sehr langer, intensiver Weg mit vielen Steinen. Da gibt es viele hohe stürmische Seen, viel Gegenwind, viel Arbeit. Es hat viel eigene Überzeugung und Schmerzen gebraucht, um überhaupt erst mal an diesen Punkt der „halbwegsen Klarheit über sich selbst“ zu gelangen. Und es bedeutet jeden neuen Tag immer wieder neue Kraftanstrengungen, in vielerlei Hinsicht, denn natürlich gingen und gehen damit ganz viele Überschreitungen von Grenzen und das Durchschreiten der eigenen tiefen, dunklen, schwarzen Höllen einher.

Dafür braucht es oft allen Mut, den man aufbringen kann, und es braucht noch viel mehr Durchhaltevermögen, wenn man mal wieder zurückgeworfen wird.

Doch genau dieser Weg lohnt sich. Jedenfalls für uns.

Und lohnt es sich für uns, unsere Schwarwel- und Glücklicher Montag-Projekte zu realisieren. So wie dieses #nichtgesellschaftsfähig-Buch. Denn mit jedem unserer Projekte und mit jeder unserer Arbeiten – ob selbstbeauftragt oder als Dienstleistung – können wir lernen und wachsen. Das wünschen wir allen von Herzen.

Danke,

Sandra Strauß und Schwarwel

Dieser Text wurde erstveröffentlicht im Buch „Nicht gesellschaftsfähig – Alltag mit psychischen Belastungen“.

Schweinevogel-Comicstrip: Schwarwel